Er ist einer der wichtigsten Preise in Deutschlands Buchlandschaft: Der Deutsche Buchpreis. Dieses Jahr darf ich als Bloggerin darüber berichten. Zu diesem Zweck wurde mir ein Patenbuch von der Longlist zugeteilt: Gert Lotschütz‘ „Besichtigung eines Unglücks“. Was es mit dem #buchpreisbloggen auf sich hat und wie mir die Lektüre des Romans gefallen hat, erfahrt ihr in diesem Post.
Eine ganz große Sache
Als mich die Nachricht erreicht, freue ich mich unglaublich: Ich bin eine der 20 Buchpreisblogger*innen 2021, die über den Deutschen Buchpreis schreiben dürfen. Zu meiner Schande muss ich geschehen, dass der seit 2005 existierende Preis früher ein wenig an mir vorbeigegangen ist. Aber das hat sich geändert, seit ich meinen Buchaccount habe. Man kann sich dem Preisfieber gar nicht entziehen. Es wird gerätselt, wer es im August auf die Longlist und einen Monat später auf die Shortlist schafft. Die wichtigste Frage: Wer heimst im Oktober die 25.000 Euro Preisgeld ein?
Verlage dürfen bis zu zwei Romane ins Rennen schicken, die dann von einer jährlich wechselnden Jury beurteilt werden. Daraus entsteht die Longlist mit 20 Titeln, später werden diese zu einer Shortlist mit insgesamt sechs Romanen. Als Auftakt der Frankfurter Buchmesse erfolgt die feierliche Verleihung an den*die Gewinnern*in, wobei die restlichen fünf Anwärter*innen der Shortlist ein Preisgeld von 2.500 Euro erhalten. Der Deutsche Buchpreis besitzt ein hohes Prestige und ist mit dem Booker Prize oder dem Prix Goncourt vergleichbar. Die Liste der Preisträger*innen ist mit einem aktuellen Schnitt von 50:50 in Bezug auf das Geschlecht sehr paritätisch besetzt, allerdings wird der Ruf nach mehr Diversität lauter, wobei ich finde, dass in diesem Aspekt dieses Jahr bereits Fortschritte erzielt wurden.
Für die gesamte Literaturlandschaft ist die Vergabe des Deutschen Buchpreises eine der spannendste Zeiten im Jahr – so auch für Blogger*innen. Im Vorfeld werden diese auf dem Buchpreisblog vorgestellt (meine Vorstellung findet ihr hier), es werden Fotos und Beschreibungen an die Organisatorin Isabella Caldart geschickt. Nach der Verkündung der Longlist werden im September dann die 20 Titel zugelost. Obwohl man den Titel tauschen kann, wenn sich ein*e Tauschpartner*in findet, bedeutet das auch, dass man vielleicht ein Buch liest, mit dem man sich normalerweise nicht unbedingt beschäftigen würde. Das hat sowohl positive als auch negative Effekte, lässt einen aber auf jeden Fall über den eigenen literarischen Tellerrand blicken. Möglichst bis zur Shortlist sollte man dann auf den Kanälen der eigenen Wahl eine Rezension posten. Und in der Zwischenzeit kann man natürlich, wie jede*r andere auch, weitere Titel von der Longlist lesen. Am Ende dieses Beitrages findet ihr eine Liste der anderen Romane, die ich im Rahmen von #longlistlesen studiert habe. Zusätzlich erhält man Leseproben zu den restlichen Nominierten und wird, als Kirsche auf der Sahnehaube, zur Verleihung des Preises nach Frankfurt eingeladen.
Das größte Zugunglück der deutschen Geschichte
Nun aber erstmal zu dem mir zugelosten Roman: „Besichtigung eines Unglücks“ von Gert Loschütz, erschienen bei Schöffling & Co. Der Autor ist nicht gerade das, was man als Newcomer bezeichnen könnte, sondern schon ein alter Hase im Literaturgeschäft. 1946 in Genthin geboren, hat er bereits eine ganze Reihe an Preise eingeheimst, außerdem Hör- und Fernsehspiele, Theaterstücke, Gedichte und weitere Romane verfasst. Mit „Besichtigung eines Unglücks“ wendet er sich dem größten Zugunglück der deutschen Geschichte zu, bei dem knapp 190 Menschen ums Leben gekommen sind: Dem Unfall in der Heimatstadt des Autors, der sich am 22. Dezember 1939 ereignete. Während der Untergang der Wilhelm Gustloff 1945 mir bereits ein Begriff war, hatte ich von dem Genthiner Unglück noch nicht gehört. In einem Interview sagt Loschütz, das Zugunglück sei aus dem deutsche Gedächtnis verdrängt worden. Umso spannender, diesem dunklen Stück Geschichte mit dem Roman nun näher zu kommen.
Nichts (möchte man meinen) geht verloren, und doch ist das meiste aus dem Gedächtnis verschwunden oder nur noch in den vergilbten, kaum jemals aufgeschlagenen Akten vorhanden.
GERT LOSCHÜTZ: BESICHTIGUNG EINES UNGLÜCKS, S. 92.
Kurz zu den realhistorischen Eckpfeilern: Der Unfall ereignete sich in der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember 1939, mitten in der NS-Zeit. Der D 180 fuhr auf den D 10 auf, die Wagons schoben sich ineinander. Der Lokomotivführer des D 180 wurde zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt. Loschütz zeichnet die Umstände, die zu dem Unfall geführt haben, sehr genau nach. Es zeigt sich, dass eine ganze Reihe unglücklicher Begebenheiten aufeinandertreffen. So verzögert sich die Abfahrt des D 10 aufgrund der Verdunklung des Bahnhofes, was eine Sicherheitsmaßnahme gegen mögliche Luftangriffe darstellte. Außerdem trugen der Weihnachtsverkehr und die Heimkehr von Fronturlaubern ihr Übriges bei. Der D 180 wiederum war ebenfalls überfüllt und dadurch viel schwerer als sonst, was den Bremsweg des Zuges verlängerte. So kommt eines zum anderen: Zufall, Zwang, menschliches Versagen. Das ist es, was Loschütz vor allem zeigt: Die (unglücklichen) Zusammenhänge zwischen den Dingen und dass es manchmal nur vier Sekunden sind, die über den Ausgang einer Sache entscheiden können.
Binnenerzählung über Binnenerzählung über Binnenerzählung
Der Protagonist Thomas Vandersee, dessen Mutter Lisa aus Genthin stammte und zum Zeitpunkt des Unglücks sechzehn Jahre alt war, recherchiert all diese Vorgänge. Er arbeitet sich durch Prozessakten und die langen Opferlisten. Im ersten Teil des Romans stehen dann auch das Unglück und seine rechtlichen Folgen im Zentrum. Vandersee wird in ebenjenen Listen auf einen ausländischen Namen aufmerksam. Der Italiener Giuseppe Buonomo war ebenfalls unter den Opfern. Begleitet wurde er von Carla, die das Unglück überlebte. Obwohl sie sich zunächst als Buonomos Frau ausgab, stellt sich heraus, dass sie mit dem Juden Richard Kuipers verlobt war. Diese Auffälligkeit macht Vandersee stutzig. Hinzukommen neun Rechnungen über eine komplette Garderobe mit Büstenhalter, Schuhen und Mantel, die Carla der Eisbahngesellschaft ausgestellt hat. Die Kleidungsstücke wurden ihr aus dem Kaufhaus Magnus ins Krankenhaus geliefert, zufällig genau das Geschäft, in dem Vandersees Mutter zu diesem Zeitpunkt eine Lehre absolvierte. Es sind diese Schnipsel in den Akten, die den Protagonisten dazu bringen, das Unglück näher zu untersuchen. Er zieht immer mehr Verbindungen, von denen er nicht weiß, ob sie tatsächlich existiert haben.
Und – bei allem Schrecken – gab es das andere nicht auch? Das Beieinanderliegen, die Musik, das grüne Gartenlicht… doch, das gab es. Sie bestand darauf, es war nicht verschwunden.
GERT LOSCHÜTZ: BESICHTIGUNG EINES UNGLÜCKS, S. 144.
So besteht der Roman nicht nur aus dem Haupterzählstrang, sondern aus verschiedenen, alle miteinander zusammenhängenden Binnenerzählungen. Zusätzlich spielt er sich auf unterschiedlichen Zeitstufen ab, denn die Handlung ist sowohl 1939 angesiedelt als auch zu Zeiten der DDR sowie dem aktuellen Leben des Protagonisten. Vandersee geht die Straßen ab, die in den Protokollen vermerkt sind und mehrmals umbenannt wurden, er findet Fotografien und Briefe. Ausgehend vom Unfall entwirft Loschütz somit ein Bild, bei dem alles irgendwie zusammenhängt – oder vielleicht auch nicht. Vielleicht möchte Vandersee diese Verbindungen auch nur herstellen, weil seine eigene Familiengeschichte so viele Lücken und ungesagte Dinge aufweist. Diese sowie Vandersees Affäre mit Yvonne, von ihm Yps genannt, spielen nämlich auch noch eine Rolle. „Nicht deine Zeit“, sagt Yps zu Thomas, als der mit den Recherchen beginnt. Und ja, vielleicht ist es nicht seine Zeit, aber zumindest sein Ort, seine Heimatstadt. Und wenn Loschütz eines zeigt, dann, dass Gegenwart und Vergangenheit sich berühren, manchmal sogar überschneiden.
Ein bisschen zu viel los
Man merkt: In diesem Roman passiert einiges. Zwar bin ich mir sicher, dass die Verbundenheit der Dinge einer der wichtigsten Aspekte dieses Buches ist. Aber manchmal ist es eben doch ein bisschen zu viel. Auf knapp 330 Seiten tummelt sich eine unglaubliche Zahl an Figuren, von denen man sich teilweise fragt, ob sie für die Erzählung als Ganzes wirklich so wichtig sind. Sie scheinen kurz auf, nur um dann wieder zu verschwinden. Besonders auffällig wird dies gegen Ende des Buches. Für mich hat der Roman oft einen Sog entwickelt, dem ich mich trotz der vielen technischen Begriffe am Anfang nicht entziehen konnte. Aber das überbordende Figurenpersonal sorgt dann doch wieder für Längen.
Vom Lektorat hätte ich mir stellenweise mehr Aufmerksamkeit gewünscht. So wird die Werbefigur von Sarotti als M**r bezeichnet; der für diese Zeit zwar korrekte Begriff, der heutzutage allerdings merkwürdig anmutet. Im letzten Abschnitt findet sich außerdem ein alter, jüdischer Mann, der in einem Heim lebt. In einem Brief wird er als „an de Rollstuhl gefesselt“ beschrieben, eine ableistische Formulierung.
[…] und schließlich denke ich, dass der Papierschnipsel nichts beweist. Und denke, als er mir eine halbe Stunde später wieder einfällt, dass er alles beweist.
GERT LOSCHÜTZ: BESICHTIGUNG EINES UNGLÜCKS, S. 311.
Trotz dieser Schwächen hat mir die Lektüre durchaus gefallen. Loschütz versteht, mit wenigen Strichen ein Bild zu entwerfen. Als Vandersee das Heim aufsucht, in dem der alte Mann lebt, erhebt sich vor der Tür ein Polizist aus seinem Stuhl. Obwohl dessen Rolle nicht weiter beleuchtet wird, weiß man gleich: Er schützt dieses Altenheim, weil es eine jüdische Einrichtung ist, so wie auch jüdische Schulen und Synagogen bewacht werden. Das muss Loschütz gar nicht erwähnen, es ist aus dem Kontext heraus klar. Solche Stellen gibt es noch öfter. Mein Fazit: Technisch und inhaltlich hat mich der Roman insgesamt überzeugt; allerdings hätten ihm einige Kürzungen gut getan. Wer sich mit einem vergessenen Stück deutscher Geschichte näher befassen möchte, ist hier gut beraten.
Meine ganz eigene Shortlist
Aus den insgesamt 20 Titeln habe ich selbst sechs gelesen. Das erscheint ein wenig wie meine eigene Shortlist. Die Romane, abgesehen von „Besichtigung eines Unglücks“, waren (hinter den Links verbergen sich meine Rezensionen):
- Shida Bazyar – Drei Kameradinnen
- Mithu Sanyal – Identitti
- Dilek Güngör – Vater und Ich
- Monika Helfer – Vati
- Felicitas Hoppe – Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm
Während Hoppe mich leider nicht überzeugen konnte, würde ich mich bei den restlichen vier Titeln für jeden freuen, wenn er es auf die Shortlist schafft. Ganz besonders emotional berührt haben mich allerdings Bazyar und Güngör, wodurch sie einen besonderen Platz in meinem Herzen einnehmen. Für mich bleibt es bis zum letzten Moment spannend und ich freue mich darauf, im Oktober zu wissen, wer den Preis letztlich erhält. Bis dahin wird hier sicher noch ein wenig #shortlistlesen betrieben.
Den Originalbeitrag findet ihr im Blog von Maline Kotetzki.