Volles Haus für Ron Mertiny und seine Buchhandlung Mertiny & Sohn in Berlin-Wilmersdorf: Rund 40 Zuschauer sind zur Blind-Date-Lesung gekommen und freuen sich auf den Überraschungsgast: Gert Loschütz, vor wenigen Tagen auch für den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis nominiert, stellt seinen DDR-Roman „Ein schönes Paar“ vor, der im Schöffling Verlag erschienen ist.
Eine Stunde lang liest er aus seinem Text, danach haben die Zuhörer die Möglichkeit, nachzuhaken. Mit seiner Antwort auf die Frage, wie autobiografisch das Buch sei, weicht der Autor zunächst aus. „Es ist anzunehmen, dass sehr viele eigene Erfahrungen drinnen sind“, sagt Loschütz. Und gibt danach zu, dass er über Orte in der DDR geschrieben hat, die er selbst sehr gut kennt. Wenig überraschend interessiert das Berliner Publikum gerade das Thema DDR besonders. Mit zehn, also 1956, sei er mit seinen Eltern in den Westen gegangen, verrät Loschütz, Erlebnisse, die er bereits 1990 in dem Roman „Flucht“ verarbeitete.
Am Ende der Veranstaltung resümiert eine Dame: „Sie haben so gelesen, dass man den Raum nicht verlassen kann, ohne das Buch zu kaufen.“ Gesagt, getan: Sie ist die erste am Büchertisch.
Interview des Schöffling Verlags mit Autor Gert Loschütz:
Das schöne Paar Ihres neuen Romans, Herta und Georg, lebt in den 50ern in der DDR und flieht dann in die BRD. Erzählen Sie in Ein schönes Paar die Geschichte Ihrer Eltern?
Den Brief aus dem Verteidigungsministerium in Bonn, der den Fluchtanlass bildete, hat es genauso gegeben. An dem Tag, an dem er eintraf, war mein Vater zu Hause, weil er zur Beerdigung eines Freundes gehen musste, und am selben Abend ist er, da die Gefahr, in die ihn der Brief brachte, unüberschaubar war, nach Westberlin geflüchtet. Was die Umstände der Flucht angeht: Ich kenne die Geschichte meiner Eltern und die ihrer Flucht. Wäre es da nicht dumm, dieses Wissen ungenutzt zu lassen? Natürlich ziehe ich Honig aus ihrem Lebensweg, was aber nicht heißt, dass sie mit den Eltern des Romans identisch wären. Damit hat sich (wenn wir davon absehen, dass die Eltern des Romans mit ein paar Charakterzügen meiner Eltern ausgestattet sind) der autobiografische Handlungsanteil bereits erschöpft. Charaktere in Büchern sind bekanntlich wie die Handlungen Konstrukte.
Aber auch die Orte, in denen der Roman spielt, sind autobiographisch gewählt.
Sagen wir es so: Die beiden Kleinstädte, die im Buch vorkommen, sind nach dem Muster der beiden Orte gezeichnet, in denen ich aufgewachsen bin: Genthin in der DDR und Dillenburg im Westen. Ich habe ihnen aber andere Namen gegeben, um, ohne auf Widerspruch zu stoßen, die örtlichen Gegebenheiten so verändern zu können, wie es die Geschichte verlangt. Kundera hat einmal sinngemäß gesagt, er zerstöre seine Biografie, um aus den Trümmern seine Bücher zu bauen.
Sie erzählen eine Geschichte von Zwängen, von Unfreiheit in Entscheidungen.
Ich bin ein Jahr nach Kriegsende geboren und durch die Entscheidung meiner Eltern, in den Westen zu fliehen, in der Sicherheit aufgewachsen, im relativen Wohlstand, im Besitz des Privilegs, mir den Wohnort selbst aussuchen und tun und lassen zu können, was ich will, und sehe mit Staunen und einer gewissen Ehrfurcht, mit welcher Wucht und Unausweichlichkeit der Lebensweg meiner Eltern (und der vieler anderer meiner Generation) in eine nur bedingt von ihnen gewollte Richtung gedrängt wurde.
Fast denke ich, dass die Weichen für die Leben meiner Eltern zu einem Zeitpunkt gestellt wurden, als sie noch weit davon entfernt waren, selbst Entscheidungen treffen zu können. Mein Vater wurde in der Nähe von Metz geboren. Nach Ende des ersten Weltkriegs (er war damals fünf) fiel Lothringen an Frankreich zurück, und die deutsche Bevölkerung wurde vor die Wahl gestellt, entweder die französische Staatsbürgerschaft anzunehmen oder das Land zu verlassen. Mein Großvaters entschied sich für Letzteres und zog mit seiner Familie nach Dresden, während sein Bruder mit seiner Familie in Frankreich blieb.
Wäre die Entscheidung anders herum ausgefallen, hätte mein Vater nicht in der Wehrmacht, sondern wie sein Cousin in der französischen Armee den zweiten Weltkrieg mitgemacht. Er hätte nicht zu den Angreifern gehört, sondern zu den Verteidigern, nicht zu den Bösen, sondern den Guten. Solche Zufälligkeiten, die das Leben in die eine oder andere Richtung drängen, die hinter jeder Entscheidung oder Nichtentscheidung, hinter jedem Tun oder Nichttun lauernden Folgen, die Unberechenbarkeit, ja Willkür der Geschichte – das ist es, was mich bewegt, was als Überlegung hinter der Romanhandlung steht.
Auch wenn es kein autobiographisches Buch ist, ist es ein sehr persönliches.
Vor ein paar Jahren machte das Schlagwort vom großen europäischen Roman die Runde. Bezeichnet wurden damit die Werke von Danilo Kiš, Milan Kundera, Aleksandar Tišma und anderen, deren Romanfiguren von den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts geprägt waren. Sie haben die Vergewaltigung ihrer Länder durch die mörderische Naziherrschaft ebenso erlitten wie die darauf folgende Sowjetdiktatur, ihre Lebenswege sind gekennzeichnet durch Verfolgung, Entwurzelung und Flucht, die sich als roter Faden durch die Geschichte Europas ziehen. Und ohne Täter- und Opferbiografien gleichsetzen zu wollen, dachte ich, dass die deutsche Literatur in diesem Chor nicht fehlen sollte, denn auch ihre Protagonisten sind von den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts geprägt, auch sie sind durch ihre Erfahrung mit Diktaturen gezeichnet, wenn auch auf eine andere Weise als die des Tschechen Kundera, des ungarischen Juden Kiš oder des Serben Tišma. Aber die große europäische Erzählung, die im großen europäischen Roman transportiert wird, wäre unvollständig ohne diese Erfahrung, ohne ihre Stimme.
Ihr letzter Roman liegt schon über zehn Jahre zurück.
Ich schreibe langsam aber regelmäßig, so dass es gar nicht so wenig ist, was mit der Zeit entsteht. Das Meiste aber lasse ich liegen, weil ich denke: Das kannst du besser. Oder weil der Rahmen fehlt, in den der Text hineinpasst. Vielleicht kann man auch sagen, dass ich dem Schreiben gegenüber so voller Skrupel bin, dass ich alles ewig bedenken und noch einmal neu probieren muss und es deshalb lieber wegschließe als hinausgebe. Was bedeutet, dass mit den Jahren ein riesiger Textberg heranwächst, den ich gelegentlich umgrabe, in der Hoffnung, auf etwas Brauchbares zu stoßen. Oft denke ich dann: Warum hast du das nicht zu Ende gebracht? Das ist doch gut. Es hat bloß an der Geduld gefehlt, die Sache abzurunden. Manchmal korrigiere ich Texte, wissend, dass ich sie nie verwenden werde. Oder ich stoße auf mit großer Detailfreudigkeit ausgeführte (häufig unterwegs entstandene) Ortsbeschreibungen, die den Kulissen einer leeren, aber für den Auftritt der Akteure bereit stehenden Bühne gleichen. Ich bewundere die großen, in sich geschlossenen Werke und ziehe vor ihnen den Hut, meine Liebe aber gehört dem Fragment, dem Unfertigen.
Ein schönes Paar ist eine Geschichte, von der ich immer wusste, dass ich sie schreiben muss. Ich habe es öfter versucht, aber ich war nie zufrieden damit, dann habe ich die Geschichte weggelegt und nach einem halben Jahr wieder hervorgeholt. Dabei hatte ich sie genau im Kopf. Ich wusste, was darin vorkommt. Ich kannte die verschiedenen Stationen, den Lebensweg der Protagonisten, die Handlung. Auch Mila, die nicht zur Hauptgeschichte gehört, gab es von Anfang an. Als Randfigur, die auf ihren eigentlichen Auftritt noch warten muss, taucht sie bereits in einer früheren Erzählung auf. Auch Tautenburg bzw. die Schieferstadt geistert als ungeliebter Ort durch einige Texte.
Die Geschichte ging mir also ständig nach. Nur stimmte das, was ich zu Papier brachte, nicht mit dem überein, was ich im Kopf hatte. Ich hatte nicht die richtige Sprache dafür. Also musste ich wieder abbrechen. Aber die Sache rumorte weiter in mir. Das ging so über Jahre. Zwischendurch sind andere Bücher entstanden. Nun denke ich, dass die Übereinstimmung zwischen dem, was ich wollte, und dem, was auf dem Papier steht, erreicht ist.
Geht es auch um Vergeblichkeit?
Natürlich ist da die alte Frage: Was bleibt am Ende von all den Lebens- und Liebesanstrengungen? Bleibt überhaupt etwas? Oder ziehen wir – wie es bei Rilke heißt – »allem vorbei wie ein luftiger Austausch«?