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Shortlistlesung im Literaturhaus Frankfurt – mit Dorothee Elmiger, Deniz Ohde, Bov Bjerg und Anne Weber

Nachdem die Lesung mit den Autor*innen der Shortlist die vergangenen zwei Jahre im Schauspiel Frankfurt stattfand, kam sie dieses Jahr zurück ins Literaturhaus. Coronabedingt waren keine Zuschauer*innen zugelassen – dafür hatten dank des Livestreams erstmals Literaturbegeisterte weltweit die Gelegenheit, an dieser Veranstaltung teilzunehmen.

Eingeleitet wird der Nachmittag durch Worte von Literaturhaus-Leiter Hauke Hückstädt, der nicht versäumte, auch Thomas Hettche und Christine Wunnicke zu grüßen, die wegen der Pandemie leider nicht teilnehmen konnten.

Dorothee Elmiger: Fragmentarische Gegenwart

Als erstes betritt die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger die Bühne, die mit Literaturkritiker Christoph Schröder über „Aus der Zuckerfabrik“ spricht, ein Buch, das keine Gattungsbezeichnung trägt, wie der Moderator anmerkt. Das liegt auch daran, dass die „Zuckerfabrik“ keinen stringenten Plot hat, Form und Entstehung im Text reflektiert werden. Aber was war der Ausgang, die Urszene für das Buch, fragt Schröder – „gab es einen Zipfel, an dem Sie gezogen haben?“ In der Tat: Bereits vor Jahren sah Dorothee Elmiger einen Dokumentarfilm über den ersten Schweizer Lottomillionär, der in ihrem Roman eine Rolle spielt. In dieser Doku wurde sein Hab und Gut versteigert, nachdem er all sein Geld verloren hatte. „Das ist eine Szene, zu der ich immer wieder zurückgekehrt bin“, sagt die Autorin, „und das Moment, den ich in diesem Text umkreise“. Christoph Schröder hakt nach: Wie kam dies in das Buch? In gewisser Weise, so Elmiger, handele das ganze Buch davon; der Lottomillionär sei eine „faszinierende Figur“ und „aparte Erscheinung“, der in seinen Memoiren schreibt, die glücklichste Zeit seines Lebens war eine Reise nach Haiti, wo er aber nicht Urlaub machte, sondern als Klempner in einem Ferienhaus Dusche und Toilette installierte.

Haiti sei ein wichtiges Land, so Elmiger, und dieser Verbindung wollte sie in ihrem Buch nachgehen. Bei der Geschichte eines Schweizers auf Haiti komme man schnell zu Kleist, dessen Novelle „Die Verlobung in St. Domingo“ eine tragische Liebesgeschichte in dem Inselstaat ansiedelt; Haiti außerdem als Land, in dem sich versklavte Männer und Frauen befreiten; der Lottospieler, der sein Geld verlor; und über die Geschichte des Zuckers zum Essen und damit zu der Frage, wie und was wir begehren.

Bei den großen Themen, die das Buch behandelt – allen voran Kolonialismus und Kapitalismus – war die Recherche entsprechend umfangreich. Schröder verweist auf das ausführliche Literaturverzeichnis im Anhang. „Ich beginne immer mit Lesen und Sammeln“, sagt die Autorin. Ihre Lektüre sei aber nicht abgeschlossen und dem Schreiben vorgelagert, sondern ein Prozess. Dabei geschehe oft, dass sie auf Dinge stoße und Zusammenhänge herstelle, von denen sie vorher nichts wusste. „Und der Text zeigt, was ich am Schreibtisch tue. Dies ist das Ich, das in den Text hineingetreten ist.“ Dieses erzählende Ich interessiert Christoph Schröder. War denn geplant, dass es in ihrem Buch so präsent ist? Da sie mit „Haut und Haaren in ihrer Recherche steckte, was fast unheimlich“ war, erläutert Elmiger, war es ihr wichtig, dieses Ich in den Text zu schreiben.

Für seine letzte Frage verweist Schröder auf Kritikerkollegin Insa Wilke, die in einer SZ-Rezension das Fragmentarische, das „instabile Konstrukt“ in Dorothee Elmigers Roman, als „Realismus des 21. Jahrhunderts“ interpretiert. War das intendiert? Ja, lautet die Antwort, auch wenn diese Überlegungen so konkret nicht stattfinden würden. Denn: Sie könne gar nicht kohärent schreiben und deswegen auch nicht die Welt in eine kohärente Form bringen.

Deniz Ohde: Keine Sozialscham

Vor ziemlich genau einem Jahr lernten sie sich kennen, verrät Moderatorin Miriam Zeh, die mit Deniz Ohde spricht. Damals hatte Ohde bei einem kleinen feministischen Literaturfestival vor zehn, fünfzehn Zuschauer*innen gelesen – und jetzt in diesem Rahmen. Wie sehr habe sich ihr Leben seitdem verändert? Nicht so sehr, denn „alle krassen Nachrichten habe ich in meinem Zimmer bekommen“, sagt die Autorin freimütig. Aber: „Das ist auch 2020.“

Ihr Roman „Streulicht“ erzählt eine Bildungsbiografie mit starkem Neunziger-Jahre-Zeitgeist, so Zeh, die sich an ihre eigene Kindheit, vor allem an das Mathespiel „Ecken rechnen“ in der Schule erinnert fühlte. Könne dieser Plot auch in den 2010er-Jahren spielen? Sie habe keinen Kontakt zu heutigen Schüler*innen, sagt Deniz Ohde, aber das Schulsystem sei immer noch so aufgebaut, entsprechend könnten Auf- und Abstieg so, wie im Roman beschrieben, immer noch passieren. Auf- und Abstieg als Stichwort: Empfand sie beim Schreiben Mitleid mit ihrer Figur oder doch Wut auf die Institution? Anfangs sei sie sehr wütend gewesen, sagt die Autorin, sie habe aber keinen Roman schreiben wollen, der wütend daherkommt, und deswegen diese Stellen gestrichen und sich nach und nach „an den nüchternen Ton herangeschrieben“. Ganz verloren sind die wütenden Texte aber nicht: Ohde hat einen versteckten Ordner namens „Outtakes“.

Mit Bezug vor allem auf französische Autor*innen wie Eribon interessiert Zeh, ob Ohdes namenlose Erzählerin „Sozialscham“ empfinde. „Ich glaube, ich verstehe diesen Begriff nicht wirklich“, antwortet die Autorin. Es sei weniger Scham denn Ratlosigkeit, die die Figur verspüre, da sie nicht verstehe, warum sie sich von den anderen unterscheide. Zuletzt interessiert Miriam Zeh, ob die eigenen Erfahrungen, die Deniz Ohde gemacht hat, die selbst von der Schule abgegangen war und ihr Abitur erst später nachholte, bedeutsam für den Roman gewesen seien. Zentral ja, sagt die Autorin, das Ich im Text sei aber nicht sie selbst: „Die Figur hat sich von Anfang an verselbstständigt.“ Sie habe interessiert, einen „abstrakten Begriff wie Chancengleichheit“ anhand einer konkreten Biografie zu beschreiben, dadurch greifbar und literarisch erfahrbar zu machen.

Bov Bjerg: Schwärmen von der Schwäbischen Alb

Bov Bjerg, der dritte Autor an diesem Nachmittag, wurde vor einigen Jahren mit „Auerhaus“ berühmt. „Serpentinen“ nun hat möglicherweise denselben Erzähler wie „Auerhaus“, für das Verständnis der Handlung ist dieses Detail aber unrelevant. Was sich ein wenig vergleichen lässt: Auch wenn „Auerhaus“ um einiges leichter ist, so hat „Serpentinen“ trotz des düsteren Themas – immerhin geht es um Suizid – auch einen heiteren, sarkastischen Unterton. „Woher kommt dieser Ton?“, fragt Moderator Christoph Schröder. Nun, so Bjerg, der Ich-Erzähler sei nicht nur depressiv und suizidgefährdet, sondern auch voller Wut, Sarkasmus und Spott. Er habe nicht nur über Düsternis schreiben wollen. Es ist auch dieser abwechslungsreiche Ton, der es schwierig mache, eine Stelle aus dem Roman zu lesen, weil keine repräsentativ sei, entweder traurig oder witzig rüberkomme. „Deswegen richte ich mich, wenn ich vorlese, ganz stumpf danach, wie viel Zeit ich habe“, sagt der Autor mit einem Schmunzeln.

Ausgangssituation von „Serpentinen“ ist eine Autofahrt von Berlin auf die Schwäbische Alb, die der Erzähler mit seinem siebenjährigen Sohn unternimmt. Was sei denn der Anlass für diese Fahrt? „Das weiß er vielleicht selbst nicht so genau“, sagt Bjerg. Er denke zwar darüber nach, sich das Leben zu nehmen, möglicherweise auch den Sohn umzubringen, „aber ob das von Anfang an seine Absicht ist, ist durchaus offen“. Die Schwäbische Alb ist elementar für den Roman. Schröder selbst ist ihrer Atmosphäre erlegen, „eine sehr, sehr besondere Gegend“, wie er sagt. Inwiefern habe die Geografie die Stimmung des Romans geprägt? Der Autor gerät ebenfalls „schnell in ein komisches Schwärmen“, wenn er über die Alb spricht. Es habe in der Tat auch bei ihm eine „Urszene“ gegeben, als er vor ein paar Jahren mit seinem Sohn an der Schnellbahnstrecke, die zwischen Stuttgart und Ulm gebaut wird, vorbeifuhr, und links wie rechts in den Bergen jeweils zwei riesige Löcher, im Tal die errichteten Pfeiler für eine Brücke sah. „Ein irrer Eindruck“ war das: Zum einen die Abscheu vor der Naturzerstörung, zum anderen technische Faszination, dieses „Monstrum als Sinnbild“ für die Veränderungen, die die Schwäbische Alb seit Bjergs Wegzug 1984 nach Berlin erlebt hat.

Zuletzt sprechen Autor und Moderator über ein weiteres Thema in „Serpentinen“: den Milieuwechsel des Protagonisten. Dieser sei sich in seiner Selbstanalyse nicht einig, wie viel seiner Depression durch familiäre Prägung, wie viel durch das soziale Umfeld als Bildungsaufsteiger komme. „Er ist milieumäßig heimatlos.“ Diese Entfernung von seiner Herkunftsfamilie kann aber auch einen Vorteil haben – anders als Vater, Großvater oder Urgroßvater, die Suizid begingen, hat er die Freiheit, einen anderen Weg zu gehen.

Anne Weber: Helden nein, Heldinnen ja

Die letzte Lesung des Shortlistnachmittags beginnt Miriam Zeh mit einem Geständnis: Sie habe Anne Webers „Heldinnenepos“ zunächst zur Seite gelegt und fragte sich später nach dem Grund. „Wie immer waren die Männer schuld daran!“, sagt sie im Scherz. Das Wort „Held“ empfände sie als problematisch, da Helden eine Projektionsfläche seien und zudem die Arbeit anderer unsichtbar machen. Anne Weber greift den Ball auf: Hätte sie über einen Mann geschrieben, sie hätte ihr Buch nicht „Heldenepos“ genannt, auch wegen des spätestens durch das Heldenbild im Nationalsozialismus und den Helden der Arbeit im Sozialismus negativ besetzten Begriffs. Aber Wörter leicht zu verändern oder in einen anderen Kontext zu stellen, ermögliche einen anderen Blick – und „dieser schmächtigen, uralten Frau“ etwas typisch „Männliches“ zu widmen entsprechend Witz.

Die Bekanntschaft mit der „uralten Frau“, namentlich Anne Beaumanoir, 1923 in Frankreich geboren und unter anderem aktiv in der Résistance, habe sie bei einer Veranstaltung in einem südfranzösischen Dorf gemacht. „Ich war angezogen von dieser Person“, sagt sie rückblickend, „ich wollte sie wiedersehen und mehr über sie wissen“. Zunächst ohne den Gedanken daran, ein Buch über sie zu schreiben, besuchte sie Beaumanoir wieder und wieder. Miriam Zeh interessiert sich für die Methodik: Wie spricht man mit jemandem, über den man schreibt? Da sie keine Biografie verfasst habe, habe sie während der Gespräche nie mitgeschrieben, sondern erst kurz danach Notizen gemacht, erläutert Weber.

In dem Buch gibt es entsprechend verfremdende Elemente, etwa durch die Erzählstimme, die sich teilweise von Protagonistin Annette distanziert. „Das ist ihr Leben erzählt aus meiner Perspektive“, sagt die Autorin dazu. „Und auch sie selbst blickt aus der riesigen zeitlichen Entfernung kritisch zurück.“ Denn natürlich gab es in Beaumanoirs Leben fragliche Entscheidungen, etwa ihr Engagement für die algerische Unabhängigkeitsgruppe FLN, die unter anderem in Cafés und Straßenbahnen Bomben legte.

Auch die Erzählstimme selbst ist in „Annette“ ungewöhnlich. „Die Form beruht auf der Ausgangsfrage: Wie erzählen von einem Menschen, den es wirklich gibt? Was darf ich tun?“ Sie habe dann ein Ausschlussverfahren gemacht, so Weber. Einen klassischen Roman hätte sie sich nicht vorstellen können, Sachbuchautorin ist sie auch nicht – bis ihr die „uralte literarische Form“ des Heldenepos einfiel, was ihr half, nichts zum Leben von Beaumanoir dazuzuerfinden und trotzdem einen literarischen Text zu schreiben. Ob man mit „Annette“ auch Vergleiche zu gegenwärtigen Konflikten ziehen kann, fragt Zeh zum Abschluss. Durchaus: Die Fragen, welche Folgen Kolonialismus hat und auch, was man für welches Ziel einsetze, sind immer noch relevant. „Was hätte ich in bestimmten Situationen gemacht?“ Und die Erkenntnis: Vielleicht sollte man sich lieber nicht mit Heldin Anne Beaumanoir vergleichen.

 

Fotos: vntr.media
Text: Isabella Caldart