Vor Ort im Saal oder live im Stream konnten am Freitag, den 1. Oktober, fünf der sechs Autor*innen, die auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2021 stehen, im Literaturhaus Frankfurt erlebt werden: Moderiert von Eva-Maria Magel (F.A.Z.), Christoph Schröder (freier Kritiker) und Bianca Schwarz (hr2-kultur) sprechen nacheinander Monika Helfer, Thomas Kunst, Antje Rávik Strubel, Norbert Gstrein und Mithu Sanyal (Christian Kracht war leider verhindert) über ihre nominierten Titel.
Nach einleitenden Worten des Literaturhaus-Leiters Hauke Hückstädt, der Leiterin des Kulturamts Sonja Vandenrath und des Börsenverein-Geschäftsführers Alexander Skipis geht es los mit dem großen Shortlistabend des Deutschen Buchpreises 2021.
Monika Helfer & Christoph Schröder: Die Bibliothek des Vaters

Ihr Buch „Vati“ ist zwar nicht autobiografisch, aber durchaus autofiktional, denn Monika Helfer hat sich von ihrer Familiengeschichte inspirieren lassen. In gewisser Weise ist es auch die Fortsetzung von ihrem Erfolgsroman „Die Bagage“, auch wenn das nicht von Anfang an so angelegt war. Gefragt von Moderator Christoph Schröder nach dem Verhältnis von Fiktion und Realität erläutert Helfer, dass sie beim Schreiben über die Familie bemerkte, wie viel sie nicht wisse. Eine Tante von ihr, fast 100 Jahre alt, habe sich etwa erst geweigert, „und dann unglaublich viel erzählt und im Übermut Sachen dazu erfunden. Aber das habe ich gut brauchen können für meine Fiktion.“
Sie schreibe inzwischen seit 50 Jahren, bis zum autofiktionalen Schreiben aber ohne großen Erfolg, verrät die Autorin. Ihr Mann, der Schriftsteller Michael Köhlmeier, habe den Ausschlag geben, ihre Familie in den Mittelpunkt ihrer Fiktion zu stellen. „Er hat gesagt: Deine Bagage ist ja wie bei García Márquez!“ Und dann habe sie, sagt Monika Helfer trocken, mit dem Verfassen ihrer fiktionalisierten Familiengeschichte so lange gewartet, bis die wichtigsten Leute tot waren, „um sie nicht zu kränken“.
„Vati“ nun erzählt, der Titel lässt es erahnen, vom Vater. Eine Figur, die, im Roman wie im echten Leben, sich nicht fassen lasse. „Ich habe ihn überhaupt nicht verstanden, auch nach dem Schreiben verstehe ich ihn nicht. Er hat viele Geheimnisse in sich gehabt, ich glaube, er hat sich selbst nicht verstanden.“ Der erste Teil des Romans spielt auf dem Hochplateau Tschengla, auf dem ein Kriegsversehrtenheim gebaut wurde. „Für uns Kinder war dieser Ort ein Paradies“, erinnert sich Helfer. Es gab Köch*innen, Bedienstete und 14 Zimmer, die fast immer leer waren. „Wir fühlten uns wie Prinzessinnen.“ In diesem Haus baute der Vater eine riesige Bibliothek mit Schätzen auf, von der die Autorin glaubt, er habe sie mehr geliebt als seine Töchter. Bis er plötzlich verschwand. „Können Sie dieses Verschwinden heute nachvollziehen?“, fragt Schröder. Nein, es sei immer noch unheimlich, antwortet Helfer. „Meine Mutter ist jung gestorben. Nach ihrem Tod hat der Vater uns Mädchen zu einer Tante gebracht – und ist einfach verschwunden.“
Thomas Kunst & Eva-Maria Magel: Vom Zufall und der Provinz

Er habe keine Idee gehabt, als er wieder einen Roman schreiben wollte, gibt Thomas Kunst freimütig zu. Die Idee zum Beginn seines Romans, in dem der Protagonist mit einem Hundehalsband auf dem Armaturenbrett durch die Gegend fährt, um dort hinzuziehen, wo es herunterfällt, kam ihm in der Tat durch das Halsband seiner verstorbenen Hündin. Und den Protagonisten von „Zandschower Klinken“, Bengt, hatte er bereits in einem früheren Roman entworfen. Bengt also landet in der Provinz, bei einem Löschteich mit Insel und großen Getränkeladen, und freundet sich mit dem Landleben an. Wie genau sich der Roman entwickeln würde, war Thomas Kunst nicht nur am Anfang, sondern während des gesamten Schreibprozesses nicht klar. „Meine größte Lust besteht darin, am Vortag nicht zu wissen, was am nächsten Tag geschrieben wird. Dadurch kann ich die Spannung in mir selbst erhalten.“ Dieses Schreiben ohne Konzept vergleicht er mit musikalischen Improvisationen – kein Zufall, denn er verfasse keine Zeile, ohne dabei Musik zu hören.
In dem Personaltableau gibt es auch surreale Figuren wie ein Reh, das mal Taxi fährt und sich „mal in deutschen Milieus herumtreibt“, wie es Eva-Maria Magel formuliert, dazu ein Ich, das Briefe aus der Vergangenheit schickt. Den Roman müsse man nicht unbedingt linear lesen, schlägt sie vor. „Mein Ideal an Romanliteratur ist, dass sie nicht nacherzählbar sein darf“, sagt Kunst dazu. „Ich folge eher einer suggestiven Chronologie, warte auf Eingebungen.“ Und da kann es auch passieren, dass sich das Reh mit einem Wunsch an Pablo Escobar wendet.
Am Ende ist „Zandschower Klinken“ keine Dystopie, sondern eine im Dorf verankerte Utopie; Solidarität und Zusammengehörigkeit seien ihm dabei wichtig gewesen. Den Roman bezeichnet Thomas Kunst als „ein Hohelied auf die Provinz“, denn es ärgere ihn, wie „verächtlich“ teilweise von Städtern über den ländlichen Raum, „wo ja sowieso alle rechts seien“, gesprochen wird.
Antje Rávik Strubel & Bianca Schwarz: Die Normalität sexualisierter Gewalt

Struktureller Art sind die Machtgefälle in Antje Rávik Strubels Roman „Blaue Frau“, wie es Moderatorin Bianca Schwarz auf den Punkt bringt, Machtgefälle sowohl zwischen Männern und Frauen als auch zwischen Ost- und Westeuropa. Aber wie kommt man auf die Idee, diese beiden Komplexe zusammenzubringen? Ihr Anlass zu schreiben sei immer ein anderer, erläutert die Autorin, das könne eine inspirierende Landschaft sein, oder, wie in diesem Fall, die Figur aus einem früheren Text – womit sie die dritte Autorin auf der Bühne ist, die eine alte Figur wieder aufgreift. Hier ist es Adina, die in „Unter Schnee“, Strubels zweitem Roman, als Zwölfjährige zum ersten Mal auftaucht. „Ich habe mich immer mal wieder gefragt: Was ist aus Adina geworden?“
Was aus ihr geworden ist, wusste die Autorin zu Beginn von „Blaue Frau“ noch nicht. „Ich war ahnungslos, was fürs Schreiben keine schlechte Sache ist.“ Daraus habe sich die Geschichte entwickelt, in der Adina nach einer Vergewaltigung von der Uckermark in den Norden flieht, denn da sei es so dunkel, dass sie keine*r sehen könne. In Helsinki versucht sie dann, ihr Sprechen und sich selbst wiederzufinden, um Aussage machen und Gerechtigkeit erwirken zu können. Dort lernt sie außerdem den eloquenten estnischen EU-Politiker Leonides kennen. Was beide nicht wissen: Sie sind „schicksalhaft durch ihre Dunkelstellen verbunden“, wie Strubel es beschreibt, bei ihm der stalinistische Terror, bei ihr die persönliche Gewalterfahrung.
Neben der Geschichte um Adina und Leonides gibt es außerdem die Erzählebene der Blauen Frau, die sich mit der fiktiven Erzählerin, Alter Ego der Schriftstellerin selbst, unterhält. „Ich wollte die Geschichte nicht erzählen, ohne meine Position als Autorin zu thematisieren“, so Antje Rávik Strubel. Während der acht Jahre, die sie am Roman schrieb, musste sie eine Pause von anderthalb Jahren einlegen, vor Zorn darüber, wie die Gesellschaft mit sexualisierter Gewalt umgeht. Von Schwarz auf die Beschreibung der Vergewaltigung beziehungsweise dieser Leerstellen angesprochen, erläutert Strubel zum Abschluss, dass es ihr nicht um die Gewaltmomente ginge („die sieht man im Tatort“), sondern um die Wirkung struktureller Gewalt und die Normalität, die sexualisierte Gewalt in unserer Gesellschaft hat. „Das hat mich umgetrieben: Was halten wir für normal? Und warum tun wir das?“
Norbert Gstrein & Christoph Schröder: An den Rändern des Abgrunds

Jakob lernen wir kurz vor seinem 60. Geburtstag kennen, als eine Biografie über ihn geschrieben werden soll, ein Vorhaben, dem er mit beträchtlichem Widerstand begegnet. Also macht sich der Protagonist in Norbert Gstreins Roman „Der zweite Jakob“ selbst daran, seine Geschichte zu erzählen. „Man kann den Eindruck gewinnen, er hätte sich besser in die Hände des Biografen begeben“, sagt Gstrein im Gespräch mit Moderator Christoph Schröder, „weil er immer unheimlichere Dinge von sich erzählt und nicht genug davon kriegen kann, sich verdächtig zu machen und an die Ränder von Abgründen zu stellen“. Ist seine Variante denn die eines unzuverlässigen Erzählers? „Vor allem ein unheimlicher Erzähler!“
Jakobs Abgründe führen zurück an die US-amerikanisch-mexikanische Grenze in den neunziger Jahren, wo er und ein Filmteam einen Film drehen wollen. In die Nähe der Stadt Ciudad Juárez, die damals vor allem durch die Feminicidios, hunderte vergewaltigte und ermordete Frauen, bekannt wurde. Diese Mordserie sei ja „durchaus problematisch“, wie es Christoph Schröder formuliert, und lobt den Autor dafür, dass er sie nicht voyeuristisch beschreibe. Gstrein erläutert, dass er diese Geschichte zwar erzählen wollte, aber nicht mittels einer Figur, die sich dorthin auf Recherche macht, sondern einer, die indirekt darauf stößt – eben wie Jakob und sein Filmteam, die aus einem ganz anderen Grund an der Grenze sind. Das „Ungeheure“ sollte beiläufiger in den Roman einfließen, um damit glaubwürdiger zu sein.
Jakob ist „mit einer jungen Frau zugange“, einer mexikanischen Fabrikarbeiterin. Wie einvernehmlich diese Beziehung ist – oder auch nicht –, wird in einer Situation deutlich, in dem der Blick der jungen Frau auf ihn fällt und deutlich wird, dass sie ihn für einen möglichen Mörder hält. Und obwohl Schröder Überschneidungen zwischen Norbert Gstrein und dem Erzähler findet, seien die moralischen Maßstäbe Jakobs nicht klar, während er Gstrein attestiert, ein Autor mit Moral zu sein.
Mithu Sanyal & Eva-Maria Magel: Von Diskursen und Göttinnen

Als letzte Autorin des Shortlistabends betritt Mithu Sanyal zusammen mit Moderatorin Eva-Maria Magel die Bühne. Zunächst reden die beiden Frauen über den Titel ihres Debütromans – „Identitti“ gibt schon einen Hinweis darauf, worum es geht, nämlich um Identitätspolitik und Sexualität (sprich Brüste). Das ist zugleich auch der Name, unter dem eine der beiden Protagonistinnen, die Studentin Nivedita, über ebendiese Themen bloggt. Wie sie ihren Namen und den der anderen Protagonistin, der Professorin für Postcolonial Studies Saraswati, ausspreche, sei übrigens falsch, verrät Sanyal, sie könne nicht einmal ihren eigenen Namen richtig aussprechen. Aber darum ginge es auch: Ums schöner Scheitern, darum, dass es „kein postkoloniales Leben im Kolonialen“ geben müsse, sondern die Mischung, das Dazwischen, was eine Form der Utopie ausmache.
Saraswati sei eine ambivalente Figur, so Magel, einerseits vorbildlich, andererseits grenzüberschreitend. Gleich im ersten Kapitel erfahren die Leser*innen, dass sie, die sich als Woman of Color ausgegeben hat, gar nicht mixed-race ist. „Mir ging es nicht darum, dieses Geheimnis auszuloten“, erläutert Sanyal, sondern vielmehr um die Fragen, was danach geschehe. Wie geht man damit um? Kann es Versöhnung geben? Das Thema Race spielt nicht nur für die Professorin, sondern auch für Nivedita eine wichtige Rolle – allerdings auf einseitige Weise: Sie beschäftigt sich nur mit der Herkunft des indischen Vaters, nicht aber der Mutter, die zwar in Deutschland geboren, aber Tochter zweier polnischer Flüchtlinge ist. Das Buch fächert so die Vielschichtigkeit von Herkünften und Rassismen auf.
Um den Diskurs um Saraswatis Race so authentisch wie möglich abzubilden, bat Mithu Sanyal auf Twitter aktive Menschen um fiktive Tweets, die sie zu diesem Skandal geschrieben hätten, um so eine ganz besondere Art der Vielstimmigkeit abzubilden. Race und Rassismus durchzieht außerdem eine ganz andere Ebene des Buchs: Es geht auch darum, wie sich Rassismus in intimen Beziehungen auswirkt; Sanyal wollte diesen Diskurs nicht ausschließlich intellektuell verhandeln. „Identitti“ ist also ein Roman über Internet, Gender, Rassismus, Sex und die Frage, was verzeihbar ist. Und einer über die indische Göttin Kali, die auch das Cover ziert. Eine Figur, so verrät Mithu Sanyal zum Abschluss, die sie immer noch nicht loslässt. Vielleicht treffen wir sie in ihrem nächsten Roman wieder.
Fotos: Rainer Rüffer
Text: Isabella Caldart
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