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Shortlist-Abend im Schauspiel Frankfurt

Bereits zum zweiten Mal wurde die beliebte Shortlist-Lesung nicht im Literaturhaus, sondern im 700 Personen umfassenden Schauspiel Frankfurt veranstaltet – vor vollem Haus. Nach einleitenden Worten von Sonja Vandenrath, Literaturbeauftragte der Stadt, erinnert Benno Hennig von Lange vom Literaturhaus an die beiden Menschen, die sonst immer auf der Bühne stehen: Hauke Hückstädt und Alf Mentzer sind als diesjährige Juroren natürlich nicht auf der Lesung – dafür aber alle sechs Nominierten.

Raphaela Edelbauer: schmerzhafte Recherche

„Stellen Sie sich vor, unter dem Schauspiel wäre ein Loch.“ Mit diesen Worten beginnt Maike Albath die Moderation der ersten Kurzlesung mit Raphaela Edelbauer und ihrem Debütroman „Das flüssige Land“, in dem sich ein (nicht metaphorisch gemeintes) Loch unter der fiktiven österreichischen Ortschaft Groß-Einland befindet. Die Idee mit dem Loch hat durchaus Anleihen an der Realität: Hinterbrühl, der Ort, in dem die Autorin aufwuchs, senkt sich ab, „auch mein Elternhaus“. Geschildert wird der Roman aus der Sicht von Ruth, einer „immer unzuverlässiger werdenden Erzählerin“, wie Edelbauer beschreibt, die durch mehrere Jahre führt. „Das flüssige Land“ ist eine „Sedimentierung österreichischer Geschichte“, seien es Monarchie, Mittelalter, die NS-Zeit oder moderne Dinge, die in den Roman einfließen, und all dies zugleich verschachtelt und verbunden wie ein Wurzelwerk.

Da die Shortlist-Lesung am selben Tag wie die Wahl in Österreich stattfindet, bleibt ein Blick auf die Gegenwart nicht aus. Raphaela Edelbauer bestätigt den Eindruck von Maike Albath, Sebastian Kurz teile einige Eigenschaften mit den Bewohner*innen von Groß-Einland. „Nach der ersten Regierungsbildung von Türkis-Blau damals habe ich gedacht: Dieses Buch wird sich verkaufen wie warme Semmeln!“, schiebt die Autorin scherzhaft hinterher. Neben dem Hinterbühl’schen Loch waren übrigens die Traumzeit-Philosophie der Aborigines, die die Gegenwart als zeitlos erachtet, eine Inspiration, gegen die Edelbauer österreichische Heimatfilme der fünfziger Jahre „prallen ließ“, und das Ganze mit physikalischen Theorien rationalisierte. Stichwort Heimatfilme und -romane: Die musste sich Edelbauer natürlich en masse zu Gemüte führen. Oder wie sie es formuliert: „Ich habe einiges geleistet für die Recherche. Es war schmerzhaft.“

Norbert Scheuer: Bienenfreund

Als nächstes betritt Norbert Scheuer die Bühne, lässig federnd in seinen Turnschuhen, und winkt erstmal dem Publikum. Scheuer, der in Kall in der Eifel wohnt, erzählt Moderator Christoph Schröder, wie er zu dem Stoff von „Winterbienen“ kam: Einige „Grauköpfe“ aus seinem Dörfchen drückten ihm einen Aktenkoffer mit Notizen eines Imkers über die letzten Kriegsmonate in die Hand. Dabei vermutete er eigentlich, er werde in Kall nicht als Schriftsteller wahrgenommen, bis er sich bereitschlagen ließ, in einem zehn Kilometer entfernten Kulturzentrum zu lesen und dieses statt der erwarteten fünf bis zehn Besucher*innen „aus allen Nähten platzte“.

Scheuers Romane spielen allesamt in der Eifel, mit wiederkehrenden Figuren, wie Schröder nachhakt. Der Autor erklärt: In jedem Roman tauchen neue Figuren auf, die ihn inspirierten, im nächsten Roman auch über sie zu schreiben. „Je mehr man schreibt, umso mehr Möglichkeiten des Beschreibenden öffnen sich.“ Der aktuelle Roman nun ist der erste, der während des Zweiten Weltkriegs spielt. Es gab in der Tat eine aktive Fluchthilfe unter den Bauern der Eifel, die sich dadurch 200, 300 Reichsmark verdienten. Scheuers Protagonist Egidius hilft nicht nur aus humanitären Gründen; als Epileptiker benötigt er unbedingt Geld für die teuren Medikamente.

Die titelgebenden Bienen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. „Im Moment darf man bei Bienen keinen Mist erzählen“, scherzt Norbert Scheuer. Diese Gefahr droht ihm nicht: Er ist mit Imkern befreundet, und interessierte sich schon „vor der Bienenwelle“ für das Thema. Vor allem die Ambivalenzen faszinierten ihn: Das Bienenvolk einerseits in seiner natürlichen Ordnung, und von Egidius als schützend empfunden, andererseits auch als totalitäres Konstrukt. Und dagegen die Perversion des Begriffs „Volk“ durch die Nazis. Grafisch unterlegt ist der Roman mit Zeichnungen seines Sohns von Flugzeugen, die immer mehr zu Bienen werden. Passend zum Inhalt: Auch für Flugzeuge begeistert sich Egidius, doch mit der Vermischung von Bienensummen und Lärm der Flugzeuge entstünde der „Krieg in seinem Kopf“ – die Unterscheidung von Bienen und Flugzeugen geht verloren.

Miku Sophie Kühmel: verteilte Neurosen

Wie schnell sich Situationen ändern können, zeigt sich an Debütautorin Miku Sophie Kühmel. Der Literaturbetrieb sei wie „ein Märchenschloss im Hochsicherheitstrakt“, sagte sie noch vor einem Jahr, wie Moderatorin Anna Engel zitiert. Und jetzt steht sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Mit einem Roman, der nach einem japanischen Kunsthandwerk benannt ist: „Kintsugi“ bedeutet, gebrochene Keramik zu reparieren, die Bruchstellen aber durch Goldveredlung sichtbar machen, zu betonen. Dies ist auch eine Philosophie des Zen-Buddhismus, wie die Autorin ausführt: „Schönheit bedeutet in dieser Welt nicht Jugend und Unversehrtheit, sondern an etwas oder jemandem ablesen zu können, dass die Zeit vergeht“, sagt sie. „Das ist ein schöner Gedanke.“

Ähnlich gestaltet sich auch die Situation im Roman, in der ein langjähriges schwules Paar und ein Vater mit seiner Tochter ein Wochenende in einem Ferienhaus in der Uckermark verbringen. „Wie geht man mit der Situation um, wenn man gefühlt vor einem Scherbenhaufen steht?“, formuliert Kühmel die Frage, die hinter der Handlung steht. Sie habe besonders gereizt, sich aus der Ich-Perspektive in Figuren hineinzuversetzen, die nicht sie selbst seien, zugleich habe sie die Beziehungen von Vätern und ihren Töchtern und Müttern und ihren Söhnen sehr interessiert. Und sie sei Fan vom Kammerspiel als Filmgenre. Mischt man all diese Komponenten, kommt „Kintsugi“ dabei heraus. „Alle vier Figuren sind in Übergangsphasen und müssen sich fragen, wie weit alte Konstellationen und Abhängigkeitsverhältnisse noch wirken.“ Über ihre Verhältnisse müssen sich die Charaktere in „Kintsugi“ also im Klaren werden. Keine leichte Aufgabe, denn: „Ich habe all meine Neurosen gut auf die vier verteilt.“

Tonio Schachinger: Durchblick

Nach einer halbstündigen Pause geht es weiter mit dem Fußballroman, der nicht wirklich ein Fußballroman ist: In „Nicht wie ihr“ behandelt Tonio Schachinger, wie Moderator Christoph Schröder aufzählt, die Themen Kapitalismus, Einsamkeit, Männer-Selbstbilder und Rassismus. Schachinger erläutert, dass ihn die Kommerzialisierung des Fußballs in den letzten zehn, fünfzehn Jahren dazu bewegt habe, diesen Roman zu schreiben. Das habe nämlich nicht nur die Konsequenz, dass Vereine inzwischen Konzerne sind, sondern auch, dass sich Spieler, wenn sie auf dem Feld mit anderen sprechen, die Hand vor den Mund halten, damit Lippenleser*innen nicht erkennen, was sie sagen. „Man weiß nichts über diese Menschen“, sagt er. „Diese Leerstelle hat mich interessiert.“

Schröder fragt nach, wie sich der Autor die Sprache des Romans, mal Wiener Dialekt, mal Fußballslang, erarbeitet habe. Schachinger kontert zum großen Amüsement des Publikums geschickt: „Ich beherrsche mehrere Sprachregister. Ich könnte auch mit Ihnen ganz anders sprechen.“ Sein Protagonist Ivo, österreichischer Nationalspieler in der Premier League, ist widersprüchlich: Er macht zwar alles, was man ihm sagt, durchblickt zugleich aber die Mechanismen. „Fußballprofis sind nicht allzu helle Lichter in Gottes Kronleuchter“, fällt Christoph Schröder dazu ein. Schachinger pariert: „Ivo hat die Welt, in der er lebt, durchschaut. Damit hat er manchen Rezensenten was voraus.“

Rassismus ist ein wichtiges Thema des Romans. Es handele sich hierbei nicht um Alltagsrassismus, sagt der Autor, Ivo müsse keine Angst um sein Leben haben, der Rassismus funktioniere über Identitätszuschreibungen. Ähnlich wie Rapper seien Fußballer identitätsstiftende Figuren (Schachinger nennt Özil und Bushido als Beispiele), denen der Rassismus weh täte, weil sie zuerst zu Helden stilisiert, dann fertiggemacht würden. Der fiktive Ivo hat ein reales Vorbild: Ivica Vastić, einer der ersten österreichischen Nationalspieler mit Migrationshintergrund, wurde nach einem wichtigen WM-Tor von der Zeitung Krone mit „Ivo, jetzt bist du ein richtiger Österreicher“ gelobt. „Identität ist somit an Leistung gekoppelt.“ Zuletzt stellt Schröder eine, wie er es ausdrückt, „Sportreporter-Frage“: „Sie stehen auf der Shortlist – wie fühlt sich das an?“ Schachinger trocken: „Es hilft mir sehr.“

Saša Stanišić: Drachenfänger

Saša Stanišić greift den sprichwörtlichen Ball auf und outet sich als HSV-Fan, was im Publikum sehr gemischt aufgenommen wird. „Das habe ich nur wegen der Reaktionen gesagt!“, so der Autor. Moderiert wird seine Lesung von Maike Albath, die ihn, wie sie erzählt, bereits seit Stanišićs ersten Buch kennt. Während Norbert Scheuer einen Koffer mit Dokumenten überreicht bekam, war seine „Epiphanie“, wie er es bezeichnet, die Demenz der Großmutter, die begann, die Erinnerungslücken in ihrem Leben mit Geschichten rund um Drachen zu bevölkern. „Sie vermischte Legende und Wirklichkeit. Die Literatur wurde zu einer Art Kitt“, sagt Stanišić. Auch seitens der Familie, die der Großmutter Schmerz ersparen wollte und deswegen die Drachengeschichten weiterspann. Bevor sie ihre Erinnerungen vollkommen verlor, begann er, sie aufzuschreiben. „Und so wuchs dieses Buch.“

Die Stadt Višegrad ist eins der Zentren in dem stark autobiografischen Roman „Herkunft“. „Es ist schwierig, Orte von Gewalt mit einer Welt aus Worten auf Papier zu bringen“, sagt der Autor, „anmaßend“ gar. Denn: „Das sind nie wieder Orte mit schöner Landschaft für mich. Alles ist voller Symbole, belegt mit einer Patina aus Kriegsgeschichte und Verbrechen. Wie will man das beschreiben?“

Nach dem er, als einziger Autor übrigens stehend („man muss sich bewegen“), einen Ausschnitt auf dieser Theaterbühne würdige Weise vorgetragen hat, erzählt Saša Stanišić von seiner Fluchterfahrung. Während er „Herkunft“ schrieb, wurden in Ungarn Stacheldrahtzäune hochgezogen. „Auch wir würden heute vor einem Zaun stehen.“ Wie im Buch beschrieben, war sein Aufenthaltsstatus von der Willkür beziehungsweise dem Willen einer Person, sich nicht an die Vorschrift zu halten, abhängig. Dieser Mitarbeiter der Heidelberger Ausländerbehörde sei immer noch Beamter dort, erzählt Stanišić. „Ich schreibe ihm jedes Jahr zu Weihnachten, Geschenke will er aber nicht annehmen, weil er nicht darf. Das ist so deutsch, ich finde es super!“ Dann schlägt er wieder ernstere Töne an, und sagt, auch mit Sicht auf die Situation der Geflüchteten der Gegenwart: „Ich verdanke ihm das Leben, das ich heute führe.“

Jackie Thomae: Hautfarbe als Beiläufigkeit

Das letzte Duo an diesem langen Abend der kurzen Liste besteht aus Jackie Thomae und Anna Engel. Zunächst sprechen sie über das Cover von „Brüder“, das, wie Thomae verrät, verschiedene Hautfarben abbildet. „Das ist aber nicht das einzige Thema des Romans“, betont sie. Die Widmung für die „schwarzen Schafe“ sei entsprechend nicht auf die Hautfarbe gemünzt. „Ich widme das Buch denen, die sich so empfinden oder dazu gemacht werden. In großen Städten wimmelt es von schwarzen Schafen, die die Provinz verlassen haben.“ In zwei Großstädten spielt auch ihr Roman: Berlin und Leipzig. Die beiden titelgebenden Brüder haben, wie die Schriftstellerin, einen weißen und einen schwarzen Elternteil. Und Jackie Thomae wuchs ebenfalls im Osten auf, was bei der typischen Frage: „Woher kommst du wirklich?“ oft auf „großes Staunen“ stieß. „Man empfindet sich selbst als normal, und wird erst durch diese Fragen exotisch gemacht“, sagt sie, und beeilt sich, zu betonen: „Das meine ich nicht negativ.“

Sie habe sich für männliche Protagonisten entschieden, weil sie sich für die Psyche und Befindlichkeiten von Männern interessierte, so Thomae. „Außerdem konnte ich dadurch der Vermutung der Autofiktion umgehen.“ Autofiktion hin oder her: Ein Schlüsselmoment war, als ihr leiblicher Vater wieder in ihr Leben trat. „Das war ein guter Punkt, weil keine Fragen mehr offen waren. Dadurch fiel es mir viel leichter, darüber zu schreiben, und es hat etwas Spielerisches bekommen.“

Wie Stanišić zuvor vergleicht sie die heutige Situation mit den Neunzigern: Sie habe früher das Gefühl gehabt, dass sich der Rassismus langsam „ausschleiche“. Seit 2016, als Thomae mit dem Roman begann, habe sich die Stimmung enorm verschlechtert. Für die beiden „Brüder“ spielt ihre Hautfarbe aber kaum eine Rolle; sie sind in der komfortablen Situation, sich in nicht-rassistischen Umfeldern zu bewegen und werden als Einzelpersonen, nicht als Repräsentanten einer Community gesehen – was Jackie Thomae selbst übrigens auch nicht möchte. Trotzdem wird der Faktor Hautfarbe nicht ausgeblendet: „Es gibt Situationen im Buch, in denen die Frage in der Luft hängt, ob das nun Rassismus ist oder nicht.“ Wie auch im echten Leben kann diese Frage oft aber nicht klar beantwortet werden.

Text: Isabella Caldart

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