Premiere im Schauspiel Frankfurt: Zum ersten Mal wurde die Tradition, die Autorinnen und Autoren der Shortlist ins Literaturhaus Frankfurt einzuladen, gebrochen – die Veranstaltung war jedes Mal nach nur fünf Minuten ausverkauft, also ist man „das Wagnis eingegangen“, wie es die Kulturdezernentin der Stadt, Ina Hartwig, formuliert, und vom Literaturhaus, das 200 Gäste fasst, ins Schauspiel mit 700 Plätzen gezogen.
Das Wagnis ist geglückt, der Saal ist voll, in Anbetracht des Abgesangs auf die Buchkultur ein „Hoffnung machendes Zeichen“, so Hartwig. Da Maxim Biller und Nino Haratischwili verhindert sind, gibt es in diesem Jahr mit Inger-Maria Mahlke, Stephan Thome, Susanne Röckel und María Cecilia Barbetta nur vier Kurzlesungen an diesem Shortlist-Abend, das tut der Freude aber keinen Abbruch. Nach den Worten von Ina Hartwig, die nicht versäumt zu betonen, dass sich die Stadt ausdrücklich zur Förderung der Buchkultur bekennt, betritt mit Hauke Hückstädt der Leiter des Literaturhauses die Bühne und zählt auf, mit welchen Größen des internationalen Literaturbetriebs es die Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Shortlist aufnehmen können: Schon Karl-Ove Knausgård, Isabel Allende, Jonathan Franzen, Paul Auster und Herta Müller standen auf dieser Bühne. Zuletzt hält Alexander Skipis, der Vorsitzende des Börsenvereins, eine leidenschaftliche Rede, kritisiert die Bundesregierung, die den „Despoten“ Erdoğan eingeladen hat und verweist auf einen Livestream des Börsenvereins, bei dem am 28. September Texte von in der Türkei inhaftierten Autorinnen und Autoren gelesen werden.
Inger-Maria Mahlke: Insel mit Intensität
Nach diesem Plädoyer betreten Moderatorin Sandra Kegel (FAZ) und Inger-Maria Mahlke, die mit „Archipel“ nach 2015 bereits zum zweiten Mal auf der Shortlist steht, die Bühne. Mahlke hält sich tapfer auf dem Stuhl, auch wenn ihr der Arzt eigentlich Bettruhe verordnet hat. „Archipel“ erzählt hundert Jahre der kanarischen Geschichte. Aber woher rührt die Faszination vieler Autoren für Inseln?, möchte Kegel zunächst wissen. Durch den abgeschlossenen Raum und die Blindheit für die restliche Welt haben Inseln eine „andere Intensität“, erklärt Mahlke. Sie hat aber auch einen persönlichen Bezug: In ihrer Kindheit verbrachte sie viele Sommer auf Teneriffa, eine „Gegenwelt“ zu ihrem westdeutschen Vorortsleben. „Ich wollte immer darüber schreiben, musste aber erst eine Form dafür finden.“ Die Form ist in der Tat außergewöhnlich: Mahlke beginnt ihren Roman 2015 und erzählt die Handlung dann rückwärts bis ins Jahr 1919. „Es ist eine Konstruktion zu glauben, es gäbe ein stringentes Ich und eine Sache folge auf die nächste, sowohl auf der Makro-, wie auch auf er Mikroebene“, hält die Autorin fest. In ihrer Erzählweise liegt eine besondere Herausforderung: „Alles muss von Anfang an angelegt sein.“ Entscheidender Schlüssel sei der Titel des letzten Kapitels. „La Mar Pequeña“ bezeichnet nämlich nicht nur eine spanische Siedlung in Marokko, sondern verweise auch auf die Struktur des gesamten Romans: „Die Zukunft liegt wie ein Meer vor uns“, so Inger-Maria Mahlke, „aber wenn man zurückblickt, ist es doch nur ein schmaler Pfad, auf dem man gekommen ist.“
Stephan Thome: Shortlist-Garant
Da Stephan Thome, ein „zuverlässiger Shortlist-Autor“, wie ihn Moderator Alf Mentzer (hr2-kultur) bezeichnet, mit dem China des 19. Jahrhunderts ein für den Großteil der deutschen Leserinnen und Leser noch fremderes Thema gewählt hat als Teneriffa im 20. Jahrhundert, wird seine halbe Stunde zwangsläufig zu einem Exkurs in die chinesische Geschichte. Dieser historische Stoff erinnere an Tolstoi oder Homer, kommentiert Mentzer. Thome lacht. „Zum Glück hatte ich beim Schreiben nicht diesen Gedanken!“ Er habe aber in der Tat eine Welt entstehen lassen, die nicht leicht zu recherchieren ist. Ihm sei klar gewesen: „Wenn nicht ich über das Thema schreibe, tut’s keiner.“ Das Thema, das ist eine christliche Bewegung in China, ein „gewaltiger Stoff“, den man über die Figuren erschließen, auf die menschliche Perspektive herunterfahren müsse. „Religion ist hier Ecstasy des Volkes!“, wirft Mentzer ein. Thome erläutert: „Im heutigen China sind diese Männer Helden, die Vorreiter der Kulturrevolution“, schließlich seien sie antiimperialistisch und -feudalistisch gewesen. Zugleich habe es sich aber auch um religiöse, ja, fundamentalistische Fanatiker mit hohem Gewaltpotential gehandelt, die den Alkoholkonsum verbaten und – zumindest in frühen Jahren – selbst verheiratete Paare nicht im gleichen Viertel leben ließen. Thome, der in Taipeh lebt, erklärt, dass es im heutigen China eine Renaissance der Religion gebe. Dabei müsse man allerdings die Gretchenfrage stellen: „Wie hältst du’s mit der staatlichen Autorität?“
Susanne Röckel: Gruseliger als Hitchcock
Hitchcocks Film „Die Vögel“ sei nichts gegen Röckels Roman „Der Vogelgott“, beginnt Sandra Kegel die dritte Kurzlesung an diesem Abend. Autorin Susanne Röckel erläutert auf erfrischend authentische Weise die Entstehungsgeschichte ihres Romans: „Ich wollte ursprünglich etwas weniger Fantastisches schreiben; über einen jungen Mann, der aus einem Kriegsgebiet zurückkommt.“ Während des Schreibens aber habe sie bemerkt, dass diese Dinge nicht auf realistischer Ebene abhandelbar seien, „und so wurde ich immer abstrakter“. Moderatorin Kegel ist besonders am Wesen des Bösen interessiert. Röckel wägt ab. „Wenn man Dinge tut, von denen man nicht geahnt hat, dass man dazu in der Lage ist, dann begegnet man sich selbst.“ In ihrem Roman sind es ganz unterschiedliche Menschen, die alle dem Bösen ausgeliefert sind, einer Art kollektivem Wahn gleich. „Die Natur schlägt zurück“, erklärt die Autorin ihre Lesart, oder noch drastischer: „Die zerstörerische Macht der Natur schlägt zurück.“ Auch Kegel fasziniert diese Auflösung der Dichotomie Mensch/Tier. „Unsere Instrumente reichen nicht aus, um dieser destruktiven Macht etwas entgegenzusetzen.“ Röckel stimmt zu. „Gibt es einen Menschen, der nicht daran interessiert ist, Grenzen aufzulösen? Die Literatur ist ein gutes Mittel, dies mal auszuprobieren.“
María Cecilia Barbetta: Der Leser als Spieler
Die letzte Autorin an diesem kurzweiligen Abend ist María Cecilia Barbetta, mit der es schließlich ins Argentinien der siebziger Jahre geht. Im Gespräch mit der freien Kritikerin Insa Wilke verrät Barbetta, dass sie selbst in Ballester, das in „Nachtleuchten“ im Mittelpunkt steht, aufgewachsen ist. Dieses Viertel in Buenos Aires sei ein Einwandererviertel, in dem sich viele Deutsche niedergelassen hätten, und so geschah es, dass auch sie eine deutsche Schule besuchte, obwohl sie keinerlei familiäre Wurzeln in Deutschland hat. „Wir haben einmal die Woche auf Deutsch gesungen“, erinnert sich die Autorin, „das war eine ganz schön dadaistische Performance.“ Wilke hält den Vorsatz des Buches hoch, auf der die Karte Ballesters abgebildet ist. Sie sehe darin, wie auch in der Handlung des Buches, ein Raster – ein Raster, durch das die Busse dann kreuz und quer fahren. „Sie sehen Ordnung, ich sehe ein Schachbrett, ein Spielfeld“, entgegnet Barbetta. Der Leser sei der Spieler, der die Figuren zum Leben erwecke. „Ich als Autorin bin unwichtig.“ Sie, die den Vorabend der Militärdiktatur nicht bewusst miterlebte, habe ihre Gefühle aus der Zeit der Diktatur vorverlegt. Die Autorin betont, dass sie eine Geschichte „von unten, vom Rand“ erzähle, und nicht die der großen Helden oder Verbrecher. Zum Schluss der Veranstaltung interessiert Insa Wilke, wie es denn sei, nicht in der Muttersprache zu schreiben. „Das ist wie eine Geliebte, die man immer wieder erobern muss“, erläutert Barbetta. „Dadurch entsteht eine unglaubliche Plastizität.“
Und wer nicht selbst dabei war, hat ab dem 1. Oktober die Gelegenheit, alle Lesungen auf hr2 nachzuhören.