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„Archipel“ auf Spanisch. Interview mit Mahlke-Übersetzer José Aníbal Campos

Doppelte Herausforderung: Inger-Maria Mahlkes buchpreisprämierten Roman Archipel ins Spanische zu übertragen, ist für Übersetzer José Aníbal Campos (der unter anderem auch Paul Celan, Peter Stamm, Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger in die spanischsprachige Welt brachte) in gleich zweifacher Hinsicht außergewöhnlich – zum einen, da der Roman in Spanien spielt, zum anderen, weil er rückwärts erzählt ist, von der Gegenwart bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie geht man in diesem speziellen Fall vor? Und wie funktioniert das generell, das Übersetzen? José Aníbal Campos gibt Einblick in seine Werkstatt.

Herr Campos, erstmal ganz allgemein gefragt: Wie kommt ein Buch zum Übersetzer, zur Übersetzerin?

Das ist immer sehr unterschiedlich. Üblich ist, dass man vom Verlag die Anfrage zu einem konkreten Buchprojekt bekommt und sich nach der Verfügbarkeit erkundigt wird. Im Fall von Inger-Maria Mahlkes Roman aber war ich nach der Lektüre des Buches so begeistert (noch vor der Verleihung des Deutschen Buchpreises, wohlgemerkt), dass ich sofort angefangen habe, einen spanischsprachigen Verlag dafür zu suchen. Ich habe die Autorin kontaktiert, den deutschen Verlag, und nach ein paar Versuchen bekam ich die Anfrage einer Verlegerin mit Sitz in Barcelona und auf den Kanarischen Inseln.

Wie lange brauchen Sie für eine Übersetzung in etwa?

Das ist sehr unterschiedlich. Bei manchen Texten kann man nicht genau kalkulieren, wie lange es dauern wird. Ich habe vor einigen Jahren den wichtigsten Roman eines inzwischen zu Unrecht vergessenen Altösterreichers, Gregor von Rezzori, übersetzt. Der Roman heißt Der Tod meines Bruders Abel. Ich hatte geplant, ihn innerhalb von etwa zwei Jahren zu übersetzen – am Ende hat es aber fast vier Jahre gedauert, bis ich die Übersetzung abgeben konnte. Es treten manchmal Schwierigkeiten auf, die man bei einer ersten Lektüre gar nicht entdeckt.

Was hat Sie an Archipel so gereizt, dass Sie dieses Buch unbedingt übersetzen wollten?

Erstens die Struktur. Endlich mal ein Roman, der das komplexe Geflecht von privater Familiengeschichte und spanischer und europäischer Geschichte zu vernetzen weiß, und nicht eine lineare Handlung um eine supernette kroatische Oma irgendwo in Dalmatien, die immer noch mit Holz kocht, erzählt. Denn das ist etwas, was ich als Ex-Kubaner den Buena Vista Social Club-Effekt nenne: diese Schwäche (fast Manie) der deutschen Kultur, die „Ruinen“, das „Archaische“ zu romantisieren, zu „caspardavidfriedrichieren“ (wenn man mir das Unwort erlaubt). Und ich habe natürlich nichts gegen balkanische Omas! Als ich Mahlkes Roman entdeckte, war ich gerade dabei, den wunderbaren Roman Engel des Vergessens von Maja Haderlap zu übersetzen, der ein jahrzehntelang tabuisiertes Thema in Österreich behandelt, nämlich die dramatische Geschichte der Kärntner Slowenen. Ich ordne Mahlkes Roman in die gleiche Kategorie ein wie Haderlaps Engel: ein Roman, der komplexe Themen der neueren europäischen Geschichte behandelt, aber ohne den unterhaltsamen, tourismusorientierten Faktor, bezeichnen wir das mal so. Also ohne, wie in diesen beiden Fällen, darauf Rücksicht zu nehmen, ob der „exotische“ Faktor den Publikumserwartungen entspricht. Das sind die Romane, die mich als Leser herausfordern und zum Nachdenken über eine gemeinsame Geschichte anspornen.

José Aníbal Campos bei der Arbeit. © EÜK Straelen

Sie selbst haben vier Jahre lang auf Teneriffa gelebt. Liest man Archipel da mit anderen Augen?

Die unmittelbaren Kenntnisse über die dortigen Realitäten (die „Realien“, wie man schön sagt), helfen natürlich sehr bei der genauen Überprüfung der Fakten. Der Fall von Archipel ist sehr besonders. Inger-Maria Mahlke ist dort aufgewachsen, hat kanarische Vorfahren und kennt sich gut aus. Das Problem für mich als Übersetzer entsteht, wenn man das Spanische an die Besonderheiten des Sprachgebrauchs auf Teneriffa anpassen muss. Archipel ist ein Roman, der auf Deutsch geschrieben wurde und ein deutsches Lesepublikum als Erstes ansprechen will. Da greift man als Übersetzer ein: Es ist zum Beispiel nicht notwendig zu erklären, was ein „Cabildo“ ist (die jeweiligen Regionalregierungen auf jeder der sieben Kanarischen Inseln). Dafür muss ich genau aufpassen, wenn etwa von „Kälte“ im Roman die Rede ist. Die Wahrnehmung der Temperatur ist dort ganz anders als in Berlin: Bei 16, 18 Grad klopfen die Damen der „besseren Gesellschaft“ den Staub vieler Jahre von ihren alten Mänteln und Pelzen und führen sie spazieren. Man muss außerdem die ganze Zeit im Kopf haben, dass die Leser dieses Romans im Spanischen nach Entsprechungen mit der Realität der Kanarischen Inseln suchen werden, nach bekannten Orten in den Städten La Laguna oder Santa Cruz de Tenerife. Dazu kommt, dass die Figuren Kanaren sind, also sie sollten „Kanarisch“ sprechen, die Eigentümlichkeiten der kanarischen Variante des Kastilischen müssen respektiert werden. Das sind alles Dinge, die zu diesem wunderbaren handwerklichen Beruf als Übersetzer gehören.

Gibt es Beispiele für Begriffe oder Wortspiele, die sich nicht so leicht übertragen lassen?

Normalerweise sind Wortspiele nicht das Schwierigste, womit ein Übersetzer oder eine Übersetzerin während der Arbeit konfrontiert wird. Dafür findet man am Ende eine mehr oder weniger zufriedenstellende Lösung. Das Schwierigste ist immer, den richtigen Ton zu treffen, die Note (im musikalischen Sinn) richtig wiederzugeben. Recht schwierig ist in diesem Roman besonders die verlangsamende Syntax, wie das tempo rubato in manchen musikalischen Stücken. Viele Sätze, die mit dem Adverb beginnen und die erstmal keine Beziehung zu dem vorher Gesagtem zu haben scheinen. Etwa so (und ich gebe hier ein fiktives Beispiel): „Unruhig, sie war es auch, die ganze Atmosphäre war unruhig.“

Und davon abgesehen: Ist es eine besondere Herausforderung, diesen rückwärts erzählten Roman zu übersetzen? Wie geht man da vor?

Ohne Zweifel. Und nicht nur deswegen, weil die Erzählung 100 Jahre zurückgeht. Dieses Rückwärtserzählen prägt alle Episoden, fast jeden Absatz des Romans. Man hat manchmal den Eindruck, es handele sich um einen Film, der zurückgespult wird. (Dazu gehört auch die eben erwähnte Eigenart, diese „rubato-artige“ Syntax, die manchmal vollkommene Abwesenheit von Verben, die eine Verlangsamung dessen bewirkt, was gemeint wird.) Das ist meiner Meinung nach die größte Herausforderung bei diesem Roman. Auch die manchmal sehr minutiöse Genauigkeit der Beschreibungen: Gesten werden wie in einem Kamerazoom erzählt, und das wiederholt sich immer wieder. Man glaubt, Zuschauer eines entomologischen Dokumentarfilmes im National Geographic-Channel zu sein.

Inger-Maria Mahlke spricht selbst Spanisch. Haben Sie für die  Übersetzung mit ihr zusammengearbeitet?

Ja. Frau Mahlke hat die ganze Zeit ihre Bereitschaft gezeigt, meine Fragen zu beantworten. Das ist nicht immer selbstverständlich und spricht für den Autor beziehungsweise für die Autorin!

In Deutschland wird das Thema Nationalsozialismus in Romanen sehr häufig verhandelt. Hat die literarische Aufarbeitung der Franco-Diktatur einen ähnlichen Stellenwert in Spanien?

Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied, wenn man in dieser Hinsicht Deutschland mit Spanien vergleicht: Sowohl Deutschland als auch Österreich haben einen langwierigen Prozess der Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit durchlebt. Das ist in Spanien nicht der Fall, wo es immer noch etliche Massengräber gibt, in denen die Verteidiger der Republik liegen.

Was können denn spanischsprachige Leser*innen von dem Roman mitnehmen?

Vieles! Beginnend mit der Geschichte selbst. Denn was Archipel behandelt, ist Geschichte ganz Spaniens. Anhand der Geschichte einer kanarischen Familie wird die traumatische Geschichte Spaniens in einem ganzen Jahrhundert miterzählt. Dazu gehören Themenbereiche, die heute von größter Brisanz sind, beispielsweise Bürgerkrieg und Franco-Diktatur, historisches Gedächtnis und die Korruption in der Zeit der Demokratie.

Herr Campos, vielen Dank für dieses Interview!

Die Fragen stellte Isabella Caldart