#buchpreisbloggen: leaf and literature über „Herzklappen von Johnson & Johnson“ von Valerie Fritsch

Leaf and literature hat im Rahmen von #buchpreisbloggen „Herzklappen von Johnson & Johnson“ von Valerie Fritsch gelesen – das in ihren Augen zu Recht für den Deutschen Buchpreis nominiert ist.

Was bedeutet es, eine Kriegsenkelin zu sein? Sich vorzustellen, wie es war, als Kind mit dem Großvater an einem Tisch zu sitzen. Ihn nur als alten Mann zu kennen und kaum etwas über seine prägenden Erfahrungen, seine bleibenden Erinnerungen, sein Leid, seine Schuld zu wissen. Ihm Fragen stellen zu wollen, sich aber nicht zu trauen und eigentlich eh mit beharrlichem Schweigen zu rechnen. Die wenigen bedeutsamen Informationen, die man in Fetzen über ihn gesammelt hat, fast ausschließlich von den eigenen Eltern oder anderen Verwandten erhalten zu haben.

Zu Beginn des Romans Herzklappen von Johnson & Johnson, der es in diesem Jahr auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis geschafft hat, wird die Hauptfigur Alma als eine Enkelin vorgestellt, die ihren Kinderblick auf den lebensschweren Großvater richtet und nicht schlau wird aus dem Verhalten der Erwachsenen:

Der Grat zwischen einem Schweigen und dem, was man noch sagen durfte, war schmal. Seine Geschichte war der Krieg, und sie wurde nur erzählt, wenn es sich nicht vermeiden ließ, hinter vorgehaltener Hand, in ritualisierter Form, einer verdrehten Chronik folgend, die es mit dem Anfang und dem Ende nicht so genau nahm. Sie klang immer falsch und war so verwirrend, dass man die Opfer und die Täter verwechseln konnte und die Tage- mit den Geschichtsbüchern, wenn man nicht scharf mitdachte.

Alma erlebt ihren Großvater immer als “eigenartig” und “sprachlos”, während seine Gedanken und Erinnerungen für sie unsichtbar und unerreichbar bleiben. Der Krieg hinterlässt Narben und Schweigen. Ein Schweigen, das sich lange nicht überwinden lässt. Erst als erwachsene Frau nimmt Alma die Besuche bei ihren Großeltern wieder auf, denn auch wenn der Großvater sich noch immer allein in die Küche zurückzieht, öffnet sich die Großmutter zusehends. Bei jedem Besuch lässt sie sich eine Zigarette anzünden, schenkt Weinbrand ein und beginnt zu erzählen. Und Alma hört gebannt zu.

Die beiden Frauen kamen sich nah. Ihre Begegnungen waren Spaziergänge im Gedächtnis der einen, die andere war Besucherin im Museum eines verschwindenden Lebens, Gast in einem fremden Schädel voller Geschichten, die ihren Weg bereitet hatten. Manche Kinderfrage und manche Erwachsenenfrage fand eine Antwort. Es reichte für eine späte Liebe.

Während die Großmutter zurückblickt, scheint Alma vorwärts zu gehen. Sie lernt Friedrich kennen und die beiden bekommen einen Sohn. Mit der Ankunft des kleinen Emils nimmt die Geschichte eine besondere Doppeldeutigkeit an, denn der Junge kann aufgrund eines Gendefekts keinen Schmerz empfinden. Die Eltern müssen sich jeden Tag mehrmals versichern, dass es ihm gutgeht, sie tasten ihn ab, befragen ihn, überprüfen seine Unversehrtheit. Und abends, wenn Emil sicher schläft, denken Alma und Friedrich darüber nach, “wie sehr die Verletzlichkeit und die Todesahnung, die mit ihr kommt, den Menschen zum Menschen machen.”

Als der Großvater schließlich verstirbt, bereut Alma, ihn nicht besser kennengelernt zu haben. Sie hätte noch Fragen an ihn gehabt, die sie nun nicht mehr stellen kann und so hofft sie, an dem Ort seiner damaligen Kriegsgefangenschaft Antworten zu finden.

Valerie Fritsch gießt ihren Stoff in die ganz eigene Form eines unkonventionellen Familienromans, bei dem ein wichtiges Gleichnis mitschwingt, denn Emil und Almas Großvater stehen sich gegenüber als “Spiegelfiguren der Zeit, mit einem jungen und einem alten Gesicht”. Sie sehen sich nicht nur ähnlich, sie teilen auch die besondere Beziehung zum Schmerz und so wie der Großvater stets schwieg, schweigt auch Emils Körper. Durch die Tatsache, dass der Roman keine wörtliche Rede enthält, wird die Stille in Almas eigener Familiengeschichte zusätzlich unterstrichen. Die Sprache der Autorin hat es mir besonders angetan, denn die Sätze sind fließend und klar, aber alles andere als willkürlich, denn jedes einzelne Wort scheint genau richtig positioniert und unerlässlich zu sein.

Valerie Fritsch hat mit Herzklappen von Johnson & Johnson eine Geschichte über Verletzlichkeit, Empfindsamkeit, Sprache und Körpersprache geschaffen, die staunen lässt. Die Autorin umschreibt die Lücke zwischen Gefühltem und Gesagtem, die Kluft zwischen jung und alt, aber auch die Verbindungen, die sich darüber spannen lassen, ohne dabei pathetisch zu werden. Mein Patenbuch wird mir als durchdringender Wortgenuss und auf leise Weise formvollendet in Erinnerung bleiben und steht in meinen Augen vollkommen zu Recht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.

Den Originalbeitrag findet ihr auf dem Blog von Jasmin Humburg.