Buchpreisbloggen: Thomas Kunst – Zandschower Klinken (@lesestress)

Ist das Kunst oder kann das weg? Ja. Sein Name ist Kunst. Thomas Kunst. Und er hat einen Roman geschrieben: „Zandschower Klinken“ ist bereits im Frühjahr bei Suhrkamp erschienen. Jetzt hat es der Titel auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft und wurde mir als Teil des Buchpreisblogger*innen-Teams zur Patenschaft zugelost. Entwickelt hat sich jedoch eine Patenschaft wider Willen, denn so sehr ich das Buch auch verstehen und sogar mögen wollte, hat es mir meine Aufgabe wirklich schwer gemacht. Es hat gekratzt, gebissen und gezickt, zog Kreise, in ständiger Wiederholung, aber dafür in umgekehrter Reihenfolge. Trotzdem wollte ich mich als Patin nicht beirren lassen, habe mir die Themen in stundenlangen Diskussionen erschlossen und mein Patenbuch schlussendlich gebändigt und teilweise verstanden – mit der (Paten-)Familie ist es ja nie so ganz einfach.

„Landminen und Scopolamin. Zandschow ist ein Nest im äußersten Norden. Ein Feuerlöschteich im Zentrum. Wohncontainer. Getränke-Wolf. Apfelbäume.“

Hier ist Bengt Claasen nun also gestrandet. Entschieden hat es das Schicksal. Denn nachdem seine Hündin Weißäuglein verstorben ist, hat er seine Koffer gepackt und ihr Halsband auf das Armaturenbrett seines Autos gelegt, um dort, wo es herunterfällt, ein neues Leben zu beginnen und die Vergangenheit hinter sich lassen. Aber wo fangen diese Erlebnisse an und wo hören sie auf? Claasen ist ein unzuverlässiger Erzähler, seine Gedanken sind wirr und absurd, ziehen sich stets wiederholende Kreise und vermischen sich mit Träumen, Wünschen und Fantasien. Sein innerer Monolog grenzt an einen Fiebertraum oder an die Erzählung eines Menschen, der an Demenz erkrankt ist. Alles wiederholt sich, fetzt sich zusammen, reißt sich auseinander und vermengt sich erneut. Aber in umgekehrter Reihenfolge. Zu differenzieren sind seine Erzählungen und das Fünkchen Wahrheit, das es in jeder Repetition zu finden gilt: Südamerika, Afrika oder Europa – ist das fiktive Zandschow nun Sansibar? Die Hündin ist tot, da hilft auch kein Traubenzucker – aber warum fährt das Reh im Taxi? Und ist es gelb oder weiß? Fest steht, „solche Taxifahrer sollte man auf der Stelle rein kolumbianisch aus dem Verkehr ziehen“. Briefe aus dem zwanzigsten Jahrhundert werden zerrissen. Briefe aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert werden verlassen. So oder so ist es „das Leben auf den Autobahninseln“. Claasen hat es also gut getroffen – und immerhin gibt es hier auch Plastikpalmen und „Schwäne. Schwäne. Die Schwäne. Die Schwäne. Schwäne über Schwäne. Die Schwäne über die Schwäne.“

Wahl-Leipziger Thomas Kunst hat mit „Zandschower Klinken“ einen Roman geschrieben, der unzugänglicher nicht sein könnte. Sperrig und verschlossen kommen seine einzelnen Abschnitte daher, verschließen sich vor den Lesenden und wollen ihr Innerstes auf den ersten Blick nicht preisgeben. Aber wer hier gräbt und sucht, wird den wahren Kern finden, die Intelligenz hinter den Sätzen erkennen. Kunst hat vier Jahre an seinem Roman komponiert und das ist seine Stärke. Die aufblitzenden Funken Wahrheit der Repetition sind nicht selten eine gesellschaftliche, politische, kulturelle oder soziale Kritik und arbeiten beinahe beiläufig das Zeitgeschehen der 1960er bis 1980er Jahre auf. Zwischen völliger Absurdität und totaler Inkohärenz blitzen hier Intertextualitäten auf, die von den ständigen Wiederholungen getragen werden. So plätschert die Handlung zwar an einigen Stellen dahin, verdichtet sich an anderen aber wieder zu einem Strudel, der fontänenhaft Witze dazwischen schießt.

„Der Strand“ – wie ich mein Patenbuch liebevoll nenne – ist ein Buch über Freiheit und Ausstieg: aus der Gesellschaft, aus dem Literaturbetrieb, aus der Komposition des Klassischen. Ein widerspenstiger Roman, den sich Lesende zähmen müssen, in harter Arbeit und Recherche, und dessen Charme sich vermutlich vor allem im Bereich Literaturwissenschaft erschließen lässt. Ich erwarte dieses Seminar – oder ein Gespräch mit Thomas Kunst selbst –, denn ich habe Lösungen und Fragen – aber in umgekehrter Reihenfolge.

Abschließend kann ich sagen, dass ich mich der Herausforderung der „Zandschower Klinken“ nicht allein gestellt hätte – herzlichen Dank an das Team vom Deutschen Buchpreis fürs Zulosen und meine Leserunde für die ausgiebige und aufschlussreiche Diskussion! Ich bin froh, diesen Titel gelesen zu haben und wünsche Thomas Kunst viel Glück für die Shortlist – meine Daumen sind gedrückt!

Den Originalbeitrag findet ihr im Instagram-Account von Victoria Braunschweig.