#buchpreisbloggen: masuko13 über „Herzfaden“ von Thomas Hettche

Herzfaden“ von Thomas Hettche steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde von Buchpreisbloggerin Jacqueline Masuck gelesen. Was sie von dem Roman hält, verrät sie im nachfolgenden Beitrag.

Bereits beim Lesen der ersten Sätze habe ich gespürt – dieses Buch macht etwas mit mir. Die Atmosphäre des Theaters, das kleine Mädchen mit seinem iPhone das heimlich verschwindet … Verstärkt wurde dieses Gefühl durch die zarten Illustrationen von Matthias Beckmann. Und so tauchte ich mit großer Spannung ein in diese Geschichte, die wie ein Märchen beginnt. Ich drosselte mein gewöhnliches Lesetempo, um die Welt des Marionettentheaters zu betreten.

Gleich zu Beginn erleben wir Hannelore Marschall-Oehmichen, genannt Hatü, als mondäne attraktive Dame auf einem Dachboden, wo sie Zigarette rauchend und umgeben von all ihren Marionettenfiguren steht. Das Mädchen, welches über eine verschnörkelte Wendeltreppe dorthin gelangt, ist zuerst erschrocken über die Begegnung mit der längst verstorbenen Frau. Besonders als ihm klar wird, dass es selbst geschrumpft ist auf die Größe von Kasperl, der Prinzessin Li Si, dem kleinen Prinzen und all den anderen Figuren. Das alles ist ein wenig naiv erzählt, funktioniert aber gut. Dennoch fragte ich mich – was wird das jetzt?

Es ist aber mehr, als nur eine versponnene Geschichte. Eindrucksvoll beschreibt Thomas Hettche in den nächsten Kapiteln die Kriegsjahre in Augsburg bis hin zum Kriegsende und die Zeit der amerikanischen Besatzung. Der Roman endet mit den Fünfziger und Sechziger Jahren und zeigt grandios, was für eine bewegte Zeit das war. Nicht nur politisch und historisch sondern auch kulturgeschichtlich.

So hören wir im nächsten Erzählteil die Geschichte von Hatü und ihrer Schwester Ulla. Es ist das Jahr 1939. Der Vater Walter Oehmichen erwartet daheim seine Kinder in Uniform, um in den Krieg zu ziehen. Die nächsten Jahre sind hart und voller Entbehrungen. Als der Vater nach dem Kriegsende aus der Gefangenschaft zurückkehrt, beginnt er mit dem Schnitzen von Marionetten. Erste Stücke wie “Hänsel und Gretel” sowie “Faust” erfreuen sich großer Beliebtheit, bringen aber kaum Geld in die Familie.

Einen Durchbruch gibt es 1948 mit dem Erscheinen des Buches “Der kleine Prinz”, das Hatü mit großer Leidenschaft liest. Für sie verbindet sich Saint-Exupérys Gedanke – Man sieht nur mit dem Herzen gut – mit der Idee des Herzfadens. Auch ihn kann man nicht sehen. Er ist eine unsichtbare Verbindung zwischen dem Publikum und der hölzern klappernden Figur in dem Moment, da diese ihre Hände hebt und zu einem lebendigen Wesen mit Träumen und Plänen wird.

Der Herzfaden, hat sie Stimme ihres Vaters im Ohr, ist der wichtigste Faden einer Marionette. Er macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht (Seite 278).

Ein Drehbuch für die Bühne wird geschrieben und fieberhaft an der Aufführung gearbeitet. Hatü ist jetzt 17 Jahre alt und schnitzt selbst mit größter Leidenschaft. Soll das Puppentheater überleben, so ist dringend Veränderung nötig. Und zwar jetzt! Ein farbenfrohes surreales Bühnenbild entsteht und die Aufführung ist nicht nur auf der Bühne in Augsburg extrem erfolgreich, das Fernsehen zeigt Interesse an einer Ausstrahlung der Puppenkiste. Doch ihre Marionetten im Fernsehen? Das war für sie schwer vorstellbar. Natürlich hatte Hatü davon gehört: Radio mit Bildern, die durch die Luft kommen wie Musik. Aber sie hat noch nie ein Gerät gesehen. (Seite 232). Kann es denn einen Herzfaden geben zwischen Kamera, Bildschirm und Zuschauer daheim?

Ein Versuch ist es wert und so kommt es zur ersten Ausstrahlung im Nordwestdeutschen Rundfunk (1953) und später im gesamten deutschen Fernsehen (1961). Da ist es schon die berühmte Serie “Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer” nach dem Roman von Michael Ende.

“Herzfaden” ist die Geschichte einer außergewöhnlichen Frau, die mutig Altes und Verstaubtes hinter sich lässt, um mit viel Kreativität Neues zu probieren. Im Nachwort spricht Hettche davon, welche enorme Rolle Hannelore Marschall in der jungen Bundesrepublik gespielt hat und dass Generationen von Kindern mit ihren Marionetten aufgewachsen sind.

Meine Helden der Kindheit waren jedoch andere. Ich bin weder mit Urmel im Eis, noch mit Jim Knopf oder Prinzessin Li Si aufgewachsen. Vielleicht deshalb ging mir der anfängliche Zauber beim Lesen ein wenig verloren. Die große Euphorie hielt nicht an. Was anfangs so magisch auf mich wirkte, empfand ich irgendwann als zu märchenhaft verspielt. Die Passagen zur Lebensgeschichte von Hatü wiederum wurden für mich zum gut recherchierten Roman über Hannelore Marschall. Den lobenden Stimmen im Feuilleton kann ich mich deshalb nicht ganz anschließen. Auch bin ich nicht einer Meinung mit Denis Scheck, der ihn in seiner aktuellen Sendung Druckfrisch einen „literarischen Triumph“ nennt. So war der Herzfaden zwischen Autor Thomas Hettche und mir bis zum Schluss noch da, aber er war zum Zerreißen dünn. Insgesamt habe ich mich aber sehr gut unterhalten gefühlt. Und wünsche dem Buch viele begeisterte Leser*innen.

Den Originalbeitrag findet ihr auf dem Blog von Jacqueline Masuck.