Im Rahmen des Deutschen Literaturpreises 2021 bin ich die Buchpatin von Shida Bazyars “Drei Kameradinnen”. Und es gibt wohl kein Buch von der Longlist, das mich hätte glücklicher oder stolzer machen können. Auch wenn es das Buch nicht auf die Shortlist geschafft hat, ist es mein klarer persönlicher Gewinner.
Als ich dieses Buch vor einigen Monaten gelesen habe, da hatte ich so ein Gefühl. Es war ein leichtes Kribbeln unter der Haut, als wenn man das Gefühl hat, dass etwas abseits des Sichtfeldes passiert. Das Gefühl kurz bevor man den Kopf dreht, um zu sehen, ob da nicht doch etwas hinter einem passiert. Das Gefühl, etwas Wesentliches zu verpassen.
Und im Endeffekt ist es wohl genau das: Wir haben viel zu lange etwas verpasst. Nämlich kluge Perspektiven von Frauen mit vielfältigen Erfahrungen abseits des westlichen, weißen, Heteronormativen auf unseren Alltag. Dass mich diese so viel mehr flasht als die x-te Nabelschau eines alternden Schriftstellers oder eine betroffenheitssatte Aufarbeitung der NS-Zeit ist nicht verwunderlich, denke ich.
Shida Bazyars Roman ist auf so vielen Ebenen ein herausragendes Stück Literatur, dass es mir schwer fällt, die richtigen Worte zu finden. Ein paar möchte ich hier kurz streifen, wenn auch unzureichend und verkürzt.
- die Sprache
- die Struktur und die damit verbundene Kritik am deutschen Schulsystem
- die Erzählperspektive
- die Gestaltung der drei Protagonistinnen
- die übergeordnete Gesellschaftskritik und was sie mit mir gemacht hat
- das Sichtbarmachen von Alltagsrassismen und Ressentiments in nahezu jeder Szene
- die Medienkritik
Der Stil ist klar und bildhaft zugleich. Mit nur wenigen Sätzen gelingt es Bazyar, dass einem die Figuren und ihre Denkweise näher kommen. Die popkulturellen Referenzen werden pointiert und entlarvend eingesetzt. Wenn die Erzählerin auf Jamur aus “Türkisch für Anfänger” verweist, dann nur, weil in der deutschen Medienlandschaft keine andere junge Frau mit Kopftuch vorkommt. Sie macht wieder und wieder Bilder auf, die einem beim Lesen vertraut vorkommen. Nur, um sie im nächsten Moment mit einem zynischen Kommentar in ein anderes Licht zu stellen.
Die drei Freundinnen kennen sich von Kindheit an, und in den Retrospektiven erfahren wir auch viel über ihre Schulzeit. Doch auch auf der Sprachebene findet immer wieder ein Rückgriff auf das Schulsystem und die Ressentiments der damaligen Lehrer*innen gegenüber den Migrant*innen statt.
Nach der Lektüre beurteile ich meine Kindheit und besonders meine Jugend etwas anders. Ich prüfe Erinnerungen auf all die Momente, in denen ich als weißes Mädchen ohne Migrationshintergrund an einem Smirnoff Ice nuckelte und mit meinen Freundinnen verächtlich über das Outfit der “Russenbarbie” lästerte oder die Augen verdrehte, als die türkische Freundin nie mit auf eine Party durfte. Ich spüre, wie weit entfernt und doch unmittelbar vor meiner Nase das Leben der gleichaltrigen Mädchen aus Einwandererfamilien abgelaufen sein muss. Direkt in Reichweite und doch… das Gefühl, dass es abseits meines Blickfeldes stattfindet, hatte ich damals nicht. Die Unterschiede in Geschmack und Verhalten, das andere Verhalten zu den Geschwistern, waren mir fremd.
Doch erst mit diesem Buch habe ich mich nochmal genauer mit meiner eigenen Jugend und den Vorurteilen dieser Zeit auseinandergesetzt. Ja, Alltagsrassismus sitzt tief. Und ich will mich da nicht von ausschließen. Es sind so kluge Texte wie dieser Roman, der mir hilft, besser zu verstehen.
Immer wieder spricht die Ich-Erzählerin ein “ihr” an – die Deutschen ohne Migrationshintergrund. Die, deren Leben nicht geprägt ist von Mikroagressionen, Vorurteilen und einem steten Misstrauen. Jede Kritik traf. Nicht immer unmittelbar mich, doch wusste ich direkt, dass es immer diese eine Person in einer Gruppe gibt, die so denkt oder so argumentiert.
Eng verflochten sind diese Vorurteile mit dem, was an Medienkritik im Buch sichtbar gemacht wird. Die Verkürzungen, die Nutzung von einfachen Erklärungen und klischeebehafteten Bildern. Im Laufe des Romans wird deutlich, wie brandgefährlich diese aus der eigenen Erfahrungswelt und begrenzten Berührung mit Migranten*innen heraus geschriebenen Artikel für die Beschriebenen sind.
So ist es ein Akt der Emanzipation, dass die Protagonistin selbst zum Stift greift und die Geschichte ihrer Freundschaft und der Ereignisse der letzten Tage aufschreibt, bevor die Medien ihre schablonenhaften Erklärmuster über alles stülpen und damit alle Formen von Individualität und Differenziertheit abschneiden.
Dieses Buch ist hart, an vielen Stellen überdeutlich in seiner Kritik. Ich kann verstehen, dass es weh tut, es zu lesen. Dass man an manchen Stellen denkt: Nun ist aber mal gut, wir haben es ja jetzt verstanden. Aber haben wir das?
Diese marginalisierte, lang kleingeredete Perspektive ist so wichtig und bereichernd. Ich wünsche mir, dass durch die Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreis noch viel mehr Menschen dadurch ein wenig mehr verstehen.
Den Originalbeitrag findet ihr im Blog von Mareike Dietzel.