#buchpreisbloggen: Fräulein Julia über „Der letzte Satz“ von Robert Seethaler

Fräulein Julia hat „Der letzte Satz“ von Robert Seethaler gelesen. Wirklich überzeugen konnte sie der Roman über Gustav Mahler aber nicht. Warum das so ist, verrät ihre Besprechung:

Ich schließe die Augen und lasse mich innerlich fallen. Aus den Boxen meines Computers – sicher nicht die angemessenste Technik, aber die einzige mir verfügbare – tönt Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 4 G-Dur, gespielt vom WDR Sinfonieorchester. Zwar weiß ich nicht, wie Menschen Musik wahrnehmen, die nicht in den Genuss von Synästhesie kommen, bin mir aber sicher: Auch wer bei Mahler keine Farben und Formen sieht, wird sich in die Töne fallen lassen können. Mal trippeln sie spitzbübisch und herausfordernd, mal fließen sie weich und opulent wie Kaskaden warmen Wassers durch meine Phantasie. Die Musik von Mahler ist nicht leicht zu beschreiben; man muss dies auch gar nicht versuchen, sondern kann sich guten Gewissens in sie hineinlegen wie in ein Samtkissen und sie einfach nur genießen.

Nun, es sei denn, man ist Schriftsteller und will einen Roman schreiben über diesen weltberühmten Komponisten, der den musikalischen Übergang zwischen Spätromantik und Moderne wie kaum ein anderer prägte und überdies die Ende des 19. Jahrhunderts recht angestaubte Opernlandschaft mit seinen Neuerungen aufmischte. Robert Seethaler hat sich für seinen neuen Roman Der letzte Satz eben diesen, damals nicht bei allen beliebten Mann, aus der Fülle historischer Personen herausgefischt, um ihm ein literarisches Denkmal zu setzen. Zumindest wird dies vom Klappentext suggeriert, in dem es heißt: „Der letzte Satz ist Robert Seethalers ergreifendes Porträt eines Künstlers am Ende seines Weges.“

Als Leser treffen wir Gustav Mahler auf dem Schiffsdeck eines Dampfers, der ihn 1911 aus den USA zurück nach Europa bringen soll. Es weht ein frischer Wind, Mahler sitzt in Decken gewickelt auf einer Stahlkiste und „das Meer lag grau und träge im Morgenlicht.“ Die ideale Umgebung also, um als von Krankheit geplagter, älterer Mann – Mahler ist zu diesem Zeitpunkt fünfzig Jahre alt – einen Blick zurück auf sein Leben zu werfen. Was hätte man anders machen können, was gleich ganz unterlassen und was gab es für schöne Momente?

Gustav Mahler

Da war zum Beispiel seine Strenge, mit der er die Musiker des Orchesters zu knechten pflegte, das stundenlange Porträtsitzen bei dem recht griesgrämigen Auguste Rodin in Paris und natürlich seine Frau Alma Mahler und seine Töchterchen; die eine Tochter viel zu früh verstorben, die andere liebt bittere Marmelade über alles. Alma Mahler ist zwar noch an seiner Seite, hat aber längst eine Affäre mit dem Architekten Walter Gropius begonnen.

„Auf seiner Kiste auf dem Sonnendeck dachte Mahler in einem Anflug bösartiger Resignation an die Nichtkeit des Lebens. Es war kaum mehr als ein kurzes Ausatmen, ein Hauch im Weltensturm, und doch liebte er das leben so sehr, dass ihm die Traurigkeit über die Vergeblichkeit dieser Liebe das Herz zerreißen wollte.“

 

Denn welche Fragen beschäftigen den gealterten Komponisten auf seiner letzten Reise vor allem und immer wieder: Ob Alma und das Töchterchen noch immer beim Frühstück sitzen? Ob er häufiger mit Alma und dem Töchterchen hätte frühstücken sollen, anstatt sich nur mit seinem Beruf zu beschäftigen?

Dass Mahler nicht als Elektroinstallateur in Berlin-Rudow arbeitete, sondern international gerühmte Opern komponierte und dirigierte, bleibt in diesem Roman deshalb die meiste Zeit nur eine Andeutung. Was faszinierte, inspirierte, bewegte Mahler, wenn es um seine Musik ging? Wie entstanden seine Sinfonien, wie wurde er zu dem Genie, das er war? Was wollte er den Menschen mit seinen Kompositionen sagen? Wir erfahren es nicht.

Begibt man sich in das Feld der Literatur, so hat man als Autor*in die wundervolle Möglichkeit, ganz tief in die Kiste der Phantasie zu greifen, zu spekulieren und zu erfinden; man darf Zusammenhänge, die nicht für jeden lesbar bei Wikipedia stehen, hinzudichten. Seethaler, das wird in diesem schmalen Bändchen schnell klar, hat diese Möglichkeit leider ungenutzt verstreichen lassen. Fehlte ihm der Mut, sich in Mahler hineinzuversetzen oder war sein Respekt vor der Musik zu groß, als dass er ihr Interpretationen anhängen wollte? Oder mangelt es ihm einfach an Können, über Musik zu schreiben? Aufschluss gibt ein kurzer Dialog mit dem Schiffsjungen, der Mahler regelmäßig seinen Tee bringt:

„Was ist das für Musik, die Sie machen? Erzählen Sie mir etwas darüber?“
„Nein. Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald Musik sich beschreiben lässt, ist sie schlecht.“

 

Sie nenne es vereinfacht „Gustav Mahler für Eilige“, kritisierte die Schriftstellerin Vea Kaiser Seethalers Roman im „Literarischen Quartett“ und fügte hinzu: „Dieses Buch ist wie ein dünner Tee: Egal wieviel Zucker á la schöne Sätze man hineingibt, es bleibt ein dünner Tee.“

Schöne Sätze, die gibt es in der Tat en masse in diesem Roman; er ist geprägt von schwingenden und klingenden Wörtern, von einer bestimmten Farbigkeit und Tonalität, die definitiv ihren Reiz haben. Auch dass Seethaler die melancholisch-wehmütigen Rückblicke eines Mannes am Ende seines Lebens mit Empathie beschreibt, sei als positiv vermerkt, selbst wenn er damit bisweilen hart an der Grenze zum Kitsch liegt. Doch hätte auch eine weniger oder gar nicht berühmte Persönlichkeit hier als Projektionsfläche dienen können – dem großen Gustav Mahler wird der Roman leider absolut nicht gerecht. Ob Alma und das Töchterchen mittlerweile mit dem Frühstück fertig sind?

Den Originalbeitrag findet ihr auf dem Blog von Julia Schmitz.