„Die Missetaten der Väter rächen sich bis ins vierte Glied“, erklärt Lisbeth. „Die Sünden der Väter sind auch die Sünden der Kinder. So steht es auch im Buch Mose.“ (Zweite Auflage, S. 125)
Die alleinstehende Gerda Derking, die alle im Dorf Klein Ilsede des Landkreises Peine als die Totenfrau kennen, ist ihrer Arbeit überdrüssig und nimmt sich vor, keine Aufträge mehr anzunehmen. Mit Mitte 60 wünscht sie sich endlich mehr Ruhe und Zeit für sich. Ihre Arbeit übernehmen mittlerweile ohnehin professionelle Bestatter*innen, da auch die Modernisierung in den 1960er Jahren in Klein Ilsede Einzug gehalten hat. Doch da klopft Wilhelm Leeb senior an ihre Tür und bittet sie um Hilfe. Es ist etwas Schreckliches geschehen und Gerda soll nochmal ran. Diese Bitte kann sie ihrem Nachbarn und General, wie er überall im Dorf genannt wird, nicht verwehren. Denn ein altes und zartes Band eint sie seit Jahrzehnten.
Hennig Ahrens, der auch als Übersetzer bekannt ist, eröffnet seinen Roman und gleichzeitig mein Patenbuch für den Deutschen Buchpreis mit einem Cliffhanger, der im gegenwärtigen Erzählstrang im Jahr 1962 spielt. Die danach folgenden Kapitel, die uns unter anderem ins Deutschland der 1940er Jahre führen, die vom Krieg und der Niederlage Deutschlands geprägt sind, fördern eine düstere Familienchronik zutage. Nach und nach in verschiedenen Zeit- und Erzählsträngen durchlaufen wir mehrere Jahrhunderte Familiengeschichte im Galopp, die Erzählung macht Halt an verschiedenen Ereignissen, die als Schlüsselerlebnisse zu deuten sind und den Spannungsbogen kontinuierlich aufrechterhalten. Mit unglaublichem Einfühlungsvermögen führt uns Ahrens an eine, teils eigene, Familienbiografie heran und macht uns bekannt mit authentisch gezeichneten Figuren, von denen manche Wesenszüge seiner eigenen Familie tragen.
So lernen wir die Männer Leeb kennen, mit ihren unterschiedlichsten Eigenschaften, guten sowie schlechten Seiten. Ob nun überzeugter Nazi und Sonderführer, wie Wilhelm senior, oder Großvater Willi Leeb, der den Ersten Weltkrieg miterlebt hat und als Freigeist nicht viel übrig hat für die ganze politische Chose während des Nationalsozialismus sowie der Arbeit auf dem Hof. Und da wäre natürlich noch Wilhelm junior, der die Schule abbrechen und das Erbe des Vaters fortführen muss, da der Vater sich in Kriegsgefangenschaft befindet. Hinter diesen Männerfiguren stehen starke Frauen, die sich mit ihren zugeschriebenen Rollen arrangieren und sich ihrem Schicksal fügen. Sie sind es, die den Hof am Laufen halten, während die Männer damit beschäftigt sind, ihre Männlichkeit unter Beweis zu stellen.
Alle männlichen Figuren eint, dass sie als älteste Nachkommen den jahrhundertealten Hof mit all seinen Verpflichtungen weiterführen müssen. Selbstverwirklichung und freie Berufswahl stehen hier tradierten Werten, anerzogenem Verhalten sowie Geschlechterpolarität gegenüber und eröffnen ein Feld für unlösbare familiäre Konflikte, die unter der Oberfläche gären und sich über Jahrhunderte potenzieren. All diese Themen werden feinsinnig, mit Mut zur Hässlichkeit und Bekenntnis zur eigenen Familienhistorie zu einem stimmigen, einnehmenden Roman verwoben. Der Stil lebt dabei vom atmosphärisch Bildhaften – die Jauchegrube, der Acker, der Muckefuck, all dies wird so nahbar beschrieben, dass man nur schwer wieder Abschied vom Hof der Familie Leeb sowie der wunderbaren Gerda nehmen kann.
„Mitgift“ ist ein toller Schmöker, der genau die richtige Portion Anspruch mitbringt. Ich hätte mein Patenbuch vielleicht aufgrund der Heimat- sowie Landroman-Motive in der Buchhandlung eher verschmäht, aber ich kann allen, die wegen der Thematik zögern, nur sagen: Die Sorge ist unberechtigt, dies ist alles, nur kein verklärender Heimatroman. Ich wäre sehr enttäuscht, „Mitgift“ morgen nicht auf der Shortlist zu sehen. Herzlichen Dank an den Deutschen Buchpreis für die wunderbare Möglichkeit, es hat großen Spaß gemacht.
Den Originalbeitrag findet ihr im Instagram-Kanal von Seda Çalışkanoğlu.