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#buchpreisbloggen: Die lesende Käthe über „Inniger Schiffbruch“ von Frank Witzel

Buchpreisbloggerin Katharina Severa hat „Inniger Schiffbruch“ von Frank Witzel gelesen – und empfand die Lektüre, trotz einiger positiver Aspekte, als eher beschwerlich. Warum ihr Fazit so verhalten ausfällt, erfahrt ihr hier!

WARUM DIESES BUCH?

Frank Witzel, der mit seinem Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 2015 mit dem Deutschen Buchpreis gewürdigt wurde, durfte sich in diesem Jahr mit Inniger Schiffbruch über eine erneute Nominierung für die prestigeträchtige Auszeichnung freuen. Im Rahmen des Buchpreisbloggens 2020 habe ich den Roman gelesen – ein streckenweise beschwerliches Unterfangen, das in einem etwas verhaltenen Fazit mündet.

WORUM GEHT’S?

Nach dem Tod seines Vaters, zwei Jahre nach der Mutter, stellt sich bei Frank Witzel nicht die erwartete Trauer ein, was den Schriftsteller dazu veranlasst, in die Vergangenheit einzutauchen und die Eltern einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Seine biografische Recherche vermittels Erinnerungen, Fotos, hinterlassener Tagebücher und mehr gerät zwangsläufig zu einer autobiografischen, in deren Verlauf sich Witzel eingestehen muss, dass die erhoffte Erkenntnis aus dieser literarischen Psychoanalyse ausbleiben wird.

WORUM GEHT’S WIRKLICH? UND WIE LIEST’S SICH?

Mit dem Tod der Eltern setzt bei Frank Witzel ein neues Erinnern ein – ein Erinnern seiner Kindheit in einem durchschnittlichen, bürgerlichen Haushalt im Wiesbaden der 1950er und 1960er Jahre. Neu daran ist sein Hinterfragen dieser Erinnerungen. Denn umso länger Witzel sich mit seinen Eltern befasst, umso deutlicher wird ihm bewusst, wie wenig er sie im Grunde kannte, aber auch, wie sehr sie ihn geprägt haben: es herrschte viel Disziplin, für Gefühle gab es indes wenig Raum. Kann er vielleicht deshalb nicht um sie trauern? Der vorliegende Roman ist ein Versuch des Autors, seine (auto)biografische Spurensuche zu dokumentieren.

Wobei „Roman“ eine irreführende Zuordnung ist, denn Inniger Schiffbruch entbehrt einer Handlung im klassischen Sinne. Vielmehr setzt sich das Buch aus Erinnerungen, Träumen, Assoziationen, Tagebucheinträgen, Anekdoten etc. wie aus tausend Splittern zusammen. Auftakt bildet besagte ausbleibende Trauer über den Verlust der Eltern und die Verunsicherung eben darüber. Dem Erzähler, von dem man im Übrigen nur erahnen kann, dass es sich um den Autor selbst handelt, erscheint es dabei gleich auf den ersten Seiten von Wichtigkeit, zwischen Trauer und Traurigkeit zu unterscheiden:

Ich hatte beim Tod meiner Mutter vor zwei Jahren keine Trauer verspürt und verspürte sie auch jetzt nicht nach dem Tod meines Vaters. Ich fühlte eine Art Bedauern. Ein Bedauern, dass das Leben meiner Eltern nun unwiderruflich vorbei war. Dieses Bedauern nahm manchmal die Form einer Traurigkeit an, aber Trauer war das meines Erachtens nicht.

Die daraus ablesbare Unsicherheit des Erzählers gegenüber seinen eigenen Empfindungen zieht sich durch den gesamten Roman. Immer wieder münden Überlegungen in Fragen, die, und das ist wichtig, keinen rhetorischen Charakter haben, sondern sowohl an sich selbst als auch an die Leserschaft wirklich gestellt werden. Zum Beispiel wie das Bild des Rhinozeros, das ihn eingangs im Traum heimsucht und dessen Bedeutungsgehalt nicht angezweifelt wird, zu entschlüsseln sei:

Sollte es das versinnbildlichen, was ich unwissentlich vernachlässigt und damit dem Tod überantwortet hatte, das, was ich in meinem Verhältnis zu meinen Eltern bislang nicht hatte sehen wollen oder können?

Ein anhaltendes Misstrauen besteht auch gegenüber dem Erinnerten, zu dem sich die Erkenntnis gesellt, die Leerstellen in den Leben der Eltern, insbesondere der Mutter, nicht (mehr) füllen zu können. Das alles lässt letztlich keinen Abschluss im Sinne einer Verarbeitung oder Überwindung zu. Der Versuch, die Vergangenheit literarisch aufzuarbeiten, quasi eine Psychoanalyse in Buchform vorzunehmen, misslingt somit trotz aller Bemühungen. Der Erzähler (ergo Witzel selbst) erleidet Schiffbruch.

Schiffbruch erleidet unerfreulicherweise auch der Roman hier und da. Von formaler wie erzählerischer Seite in Summe zwar äußerst eindrücklich, überspannt der Autor seine Reflexionen gelegentlich, was zu langatmigen Passagen führt. Konkret gemeint ist Witzels Zitierfreudigkeit anderer Autoren wie Adorno, Bachmann oder Kertész, welche ihm als Assoziationsgeber ein wenig zu häufig zur Seite stehen. Die Berufung auf Gedanken dieser Dritten ist nicht immer ertragreich, können dem Erzählten nicht immer zusätzliche Bedeutsamkeit verleihen. Oder überhaupt Bedeutsamkeit. Denn so mancher geteilte Moment mag zwar dem Autor selbst relevant erscheinen, ist von außen betrachtet aber nichtssagend. Gleichwohl ist anzumerken, dass Witzel an keiner Stelle die Behauptung aufstellt, sein Leben wäre spannend und daher unbedingt erzählenswert.

Das wirklich Problematische, nein, Schwierige, an dem Roman ist allerdings das oben erwähnte ständige Infragestellen. Witzel müht sich an seinem Erkenntnisvorhaben ab, erkennt dies irgendwann auch selbst, stellt das fruchtlose Hinterfragen darüber aber nicht ein. Was einerseits ein wirklich interessantes Format abgibt, nutzt sich andererseits über knapp 400 Seiten allmählich ab. Inniger Schiffbruch erhält dadurch so manche Längen, die das Lesen bisweilen beschwerlich machen.

Bewundernswert ist im selben Moment Witzels Fertigkeit, sich in dem Labyrinth seiner Spurensuche nicht zu verirren, sondern im Gegenteil auch dann noch zu einem Gedanken zurückzufinden, wenn ihn diverse Assoziationspfade vom ursprünglich Gedachten meilenweit weggeführt zu haben scheinen. Sein Vermögen, verschiedenste Ebenen – Zeiträume, Gefühle, Assoziationen, Erinnerungen usw. – zu einem mehrsträngigen Gedankenfaden zusammenzufügen, ist ohne Zweifel das Herausragendste an Inniger Schiffbruch, und auch das, was den Roman lesenswert macht.

LOHNT ES SICH?

Inniger Schiffbruch erzählt keine Geschichte, sondern lässt an einem collagenhaften Erinnerungs- bzw. Erkenntnisprozess teilhaben. Das vorab zu wissen, erleichtert sicherlich den Zugang zum Roman, der letztlich keiner ist, und so doch, wohl eher auf einer Metaebene. Bedauerlicherweise gerät das Buch streckenweise zu lang und wird damit zu einer Herausforderung, die vermeidbar gewesen wäre. Im Ganzen gesehen ist Inniger Schiffbruch aber eine durchaus bemerkenswerte, weil andersartige Leseerfahrung.

Den Originalbeitrag findet ihr auf dem Blog von Katharina Severa.