Drei Tage allein mit dem Vater – wenn ich ganz ehrlich bin, wüsste ich auch nicht so genau, mit welchen Themen ich so eine lange Alone-time mit meinem Dad füllen würde. Bei der Protagonistin meines Patenbuchs des Deutschen Buchpreises 2021 reichen die Themen jedoch nicht mal für den Nachhauseweg vom Bahnhof, von dem ihr Vater die erwachsene Ipek abholt, nachdem sie ihre Mutter auf eine Wellness-Auszeit mit ihren Freundinnen geschickt hat.
Der Vater ist zum ersten Mal seit Jahrzehnten komplett alleine, und Ipek will ihm Gesellschaft leisten. Doch es ist viel mehr als das, es ist ein Abtasten, ein Versuch, die Kluft, die sich seit ihrer Kindheit zwischen den beiden aufgetan hat, zu überbrücken. Denn die beiden, die in ihrer Kindheit ein inniges, liebevolles Verhältnis hatten, haben seit Ipeks Jugend nach und nach eine Distanz und Fremdheit zueinander entwickelt, die keine gemeinsame Sprache, kein Miteinander mehr zulässt.
„Zwischen uns herrscht eine Wortlosigkeit, dass mir eng wird in der Brust.“
Nun, zu zweit, ist nicht wie sonst ihre Mutter da, die das Unbehagen mindern, die Sprachlosigkeit zwischen den beiden kaschieren könnte – kein Puffer, der die direkte Konfrontation verhindert. Doch was genau ist passiert? Ipek, deren Eltern jung und arm aus der Türkei emigriert sind, hat studiert und ist erfolgreiche Journalistin, hat sich von der türkischen Sprache, vom Herkunftsmilieu und der -klasse entfernt, während ihre Eltern stolz auf ihr Kleinstadtleben sind. Für sie ist Deutschland ihre Heimat, nicht die Türkei – Ipek sitzt daher fortwährend zwischen den Stühlen, gehört nirgends richtig dazu, schämt sich in der Schule für ihre Herkunft, zuhause für ihr Deutschsein. Die Distanz zwischen Vater und Tochter ist teilweise also Ipeks Bildungsaufstieg, ihrer Assimilation geschuldet, und doch nicht nur. Denn erste Risse zeigt die Beziehung, als es unschicklich wird, dass Vater und Tochter miteinander raufen, eine Scham schiebt sich zwischen die beiden, die sie nicht mehr überkommen können.
Ihre Frauwerdung verhindert, dass sie vor ihm sie selbst sein kann, sie hat nie aus der Rolle des Kindes gefunden: Beide werden in Anwesenheit des anderen von einer Befangenheit befallen, einfach nur deswegen, weil Ipek nun Frau und kein Kind mehr ist.
„Sie sollen sich vertraut fühlen, sicher, geborgen und beschützt. Sie sollen sich mit Worten berühren und nicht am Ungesagten ersticken. […] Können wir wir selbst bleiben, den Abstand lassen und uns trotzdem nah sein?“
Die einfache, ungeschönte Sprache Güngörs nimmt uns unmittelbar mit in Ipeks Gedankenwelt, in die kleinen Momente zwischen ihrem Vater und ihr, die die persönliche, aber auch gesellschaftliche Relevanz offenbaren. Der Roman ist mit seinen 100 Seiten sehr schmal, ich hätte mir noch 50 Seiten mehr gewünscht, und das ist auch tatsächlich der einzige Kritikpunkt, den ich habe. Ansonsten ein sehr intensives, eindrucksvolles Portrait einer entfremdeten Vater-Tochter-Beziehung, dass definitiv die Shortlist verdient gehabt hätte!
Den Originalbeitrag findet ihr im Instagram-Account von Ramona Kottusch.