#buchpreisbloggen: Female Writers Club über „Ich an meiner Seite“ von Birgit Birnbacher

Maria von Female Writers Club hat Birgit Birnbachers „Ich an meiner Seite“ gelesen – ein Roman, der dank seiner schnörkellosen Sprache und den starken Nebenfiguren überzeugt.

 Bist du eine Hauptfigur?

Der 22-jährige Arthur jedenfalls ist es nicht. Gerade aus einer 26-monatigen Haftstrafe entlassen, sieht er sich mit einem Leben konfrontiert, das nicht viel zu bieten scheint. Es besteht aus einem Doppelzimmer in einem Resozialisierungsheim – Mehrfachbelegung, wie es die Leitung des Heimes nennt, aber in Wahrheit ist es einfach eine Überbelegung – für junge Straftäter, die in die Gesellschaft wiedereingegliedert werden sollen, und regelmäßigen Therapiestunden. Arthur weiß, dass diese Dinge seinem Leben im kommenden Jahr etwas Struktur geben werden, die danach schlagartig wegbrechen wird. Und was bleibt dann? Schon jetzt weiß er, dass er für immer gebrandmarkt sein wird. Seine Aussichten auf einen Job sind mau. Und wer will schon mit einem ehemaligen Gefängnisinsassen anbändeln?

Bedrückend ist das Ausgangsszenario in Birgit Birnbachers Roman Ich an meiner Seite, der auf der Longlist für den diesjährigen Deutschen Buchpreis steht und den ich als Patenbuch im Rahmen meiner Teilnahme beim #Buchpreisbloggen2020 zugelost bekam.

Das Leseerlebnis war weniger bedrückend als gedacht, denn Birnbacher verzichtet darauf, ihre Figur anzuklagen und vors Schöffengericht der Leser*innen zu stellen. Sie präsentiert uns Arthur aber auch nicht als Musterbeispiel für einen, der aus einem verkorksten Leben auf wundersame Weise entflieht und der Realität ein Schnippchen schlägt. Stattdessen erzählt sie uns von einem, der eben im Gefängnis gelandet und jetzt wieder draußen ist und sich mit der Welt konfrontiert sieht, die sich ein paar Jahre lang ohne ihn weitergedreht hat. Als Arthur entlassen wird, befindet sich das Smartphone gerade auf dem Vormarsch und er muss erstmal lernen, wie man ein solches bedient. Helfen sollen ihm dabei – und bei anderen lebenspraktischen Dingen – die Therapeuten Bettina Bergner und Konstantin Vogl, von allen Börd genannt. Der Therapieansatz der beiden sieht vor, dass Arthur seine eigene Hauptfigur wird. Das heißt, er soll eine Version von sich selbst erschaffen, in die er hineinschlüpfen kann, wenn es erforderlich wird, um nicht straffällig zu werden, und um in die Gesellschaft hineinzupassen. Das klingt irgendwie fragwürdig? Findet Arthur auch und stellt irgendwann fest, dass er lieber zu sich selbst findet. So weit, so gut, könnte man meinen. Aber natürlich stellt sich die Resozialisierung als wesentlich schwieriger heraus.

Normalerweise würde man von einem Gefängnis-Heimkehrer-Roman ja erwarten, dass es da mindestens eine versteckte moralische Botschaft zu entschlüsseln gilt. Anders hier, denn nicht nur Arthur, sondern auch andere Figuren zeigen, dass sich Menschen selten in Kategorien wie gut oder schlecht einsortieren lassen. Das gängige Bild von Therapeut*innen ist das, dass es sich bei ihnen um Menschen ohne Probleme im Hintergrund handelt, dass sie, die doch andere beraten und unterstützen sollen, bitte selbst eine reine Weste haben, moralisch und charakterlich keinen Grund zur Kritik liefern. Ähnliches denken wir auch von Ärzt*innen, Polizist*innen und Lehrer*innen. Dass Börd, der dem auf die schiefe Bahn geratenen Arthur dabei helfen soll, ein braver Bürger zu werden, selbst nicht frei von dunklen Schatten ist, verhilft dem Roman dazu, nicht gefährlich nah an Klischees entlang zu tänzeln.

Als Arthur noch ganz klein war, verließ sein Vater die Familie. Der neue Freund der Mutter konnte Arthur nie die Vaterfigur ersetzen, nach der er sich seine ganze Jugend lang schmerzlich sehnte. Die Mutter schafft den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg, von einer tristen Arbeitersiedlung in Wien hin zur Geschäftsführerin. Die Mutter hat ob der neuen Beschäftigung wenig Zeit für ihre Söhne, und als Arthurs Bruder Klaus seine Sachen packt und verschwindet, bleiben ihm nur noch die Freunde Princeton und Milla, ebenfalls Kinder reicher, aber immerzu beschäftigter Eltern. Ein tragischer Unfall zerstört die komplizierte Dreiecksbeziehung und Arthur flüchtet vor seiner Trauer – in krude Geschäfte im gerade erst aufgekommenen Darknet, die ihn schließlich ins Gefängnis bringen.

Das klingt, so runtergebrochen, alles schon sehr nach Klischee. Dass es eben dann doch nicht wie eine dieser Geschichten wirkt, in denen der emotional vernachlässigte Junge sozial abstürzt, nachdem ein einschneidendes Erlebnis ihn traumatisiert hat und er niemanden hat, der ihn auffängt, liegt an Details in der Geschichte, die überraschen. So wandert Arthurs Familie nach Andalusien aus, um dort ein Palliativzentrum zu errichten und zu leiten. Scheinbar mühelos reiht Birnbacher hier schwere Themen aneinander, ohne diese breitzutreten. Es ist Arthurs Alltag, neben den Menschen zu leben, die an der Schwelle zum Tod stehen, und es entsteht sogar so etwas wie Leichtigkeit, als Arthur Freundschaft mit der gealterten Schauspielerin Grazetta schließt, die auch am Rollator noch jene schillernde Diva ist, die sie einst auf der Bühne war. Grazetta wird es schließlich sein, die ihm trotz ihrer Angewiesenheit auf Pflege nach Wien folgt, als er der Mutter den Rücken kehrt, und ihn nach seiner Haftentlassung erwartet, ans Bett gefesselt und nur mehr ein Schatten ihrer selbst, aber zur Stelle für den Freund.

Neben Grazetta ist es vor allem die Figur des Therapeuten Börd, wegen der die Handlung sich nicht bleischwer von Seite zu Seite rollt – denn besonders optimistisch sieht Arthurs Zukunft nicht aus, und je mehr man über seine Zeit im Gefängnis erfährt, desto mehr freut man sich, selbst noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten zu sein. Börd, das hatte ich bereits erwähnt, ist selbst eine Figur mit Ecken und Kanten. Der Therapeut leidet an Tinnitus, Trinksucht und chronischer toxischer Männlichkeit. Sowohl seine Vorgesetzte Bettina untergräbt er regelmäßig mit frauenfeindlichen Sprüchen als auch jede andere Frau, die ihm über den Weg läuft. Das macht ihn einerseits sehr unsympathisch – andererseits ist er dennoch die Figur im Roman, über die ich gern mehr erfahren hätte, denn alles, was über ihn nur angedeutet, aber nicht auserzählt wird, lässt erahnen, dass in Börd noch mehr Dimensionen stecken als das offenkundig joviale Arschloch, als das er sich gibt. Wir kennen das alle von diversen Krimi(serien): der Kommissar mit dem dunkelsten Geheimnis ist in der Regel interessanter als der Schurke. Und Börd, das muss ich leider sagen, ist für mich die eigentliche Hauptfigur des Romans.

Birnbachers Text behandelt Themen, die schwierig wie wichtig sind – Wie ist es, im Gefängnis gewesen zu sein und das Stigma nicht loszuwerden? Inwieweit darf man mit einem wie Arthur sympathisieren? Die Erzählweise zwingt uns natürlich dazu, seine Perspektive einzunehmen, und Arthur ist durchaus mögenswert. Ein Junge eben, der ein paar falsche Entscheidungen im Leben getroffen hat, die man ihm aber nicht vollends vorwerfen kann, weil er sehr jung war, weil er sehr allein war. Trotzdem schwingt da immer die Frage mit, ob man sich gerade auf die Seite des Falschen – des Bösen – schlägt. Ich spürte dennoch das gesamte Buch hindurch eine Distanz zu Arthur, sein Schicksal hat mich nicht so sehr beschäftigt, wie es wünschenswert gewesen wäre. Woran das liegt, kann ich nicht richtig benennen. Vielleicht waren die Nebenfiguren zu stark (siehe Grazetta, siehe Börd).

Ob Ich an meiner Seite den Deutschen Buchpreis gewinnen wird? Eine Prognose abzugeben ist schwierig, wenn man nicht alle anderen Titel gelesen hat. Für mich hallt das Buch leider nicht nach, obwohl ich es durchaus gern gelesen habe. Erwähnen möchte ich aber noch eine Sache, die Birnbacher – eventuell – von den anderen Nominierten abheben könnte. Während ich auf mein Leseexemplar wartete, las ich einige der anderen Romane – zufällig griff ich nur zu Texten, die neben der inhaltlichen Ebene vor allem sprachlich hervorstachen. Sie waren metaphernreich und ausschweifend, wortgewaltig, wortgewandt. Birnbachers Text kam mir im Vergleich sehr clean vor, schnörkellos, kein Wort zu viel, pointierte Dialoge, dennoch nicht fade oder farblos. Ihre Art zu schreiben ist eine andere, ihre Sprache dient nicht der Illustration, wie bei manchen der anderen Nominierten, sondern der Stütze ihrer Figuren und ihrer Handlung. Das fand ich nach den sehr sprachlastigen Texten, bei denen man immer ganz nah und konzentriert am Text bleiben muss, weil sich in den Schnörkeln der Sprache der Inhalt leicht aus den Augen verlieren lässt, ziemlich angenehm. Die Mischung aus den Audio-Aufzeichnungen, die Arthur für Börd anfertigt und in denen er über seine Kindheit und Jugend spricht, und die erzählerischen Teile, in denen zurückgeblendet wird auf die Zeit, in dem Arthurs Abstieg begann, und die Zeit nach seiner Freilassung, ergeben mit all ihren Leerstellen und Andeutungen ein Bild, das am Ende nicht mit strahlendem Sonnenschein aufgelöst wird, aber immerhin mit einem kleinen Lichtschimmer, was ich das realistischste aller möglichen Endszenarien fand.

Arthurs Erkenntnis, dass er keine Hauptfigur, sondern er selbst sein möchte, ist vielleicht dann doch die kleine versteckte Botschaft des Romans. Wer von uns steht denn schon wirklich im Spotlight des Lebens?

Den Originalbeitrag findet ihr auf dem Blog von Maria Schmidt.